Berthold Viertel  in einem Kino zu Wien, anno 1910

Von Klaus Kreimeier

Im Jahre 1910 besuchte der deutsche Kaiser den habsburgisch-österreichischen Kaiser zu Wien. Absolviert wurde das seinerzeit übliche Staatsbesuchs-Programm: Emp­fänge im Rathaus, Besuch im Arkadenhof und gemeinsame Besichtigung der Jagdausstel­lung. Der anschließende Abstecher der beiden Monarchen in ein Kinematographen-Thea­ter indes­sen war, nach den Kriterien des traditionellen Hofprotokolls, eine Novität – wenngleich durchaus „trendy“ im Sinne der Durchsetzung eines neuen Mediums, das zu dieser Zeit auch die Aufmerksamkeit der Bildungsschichten auf sich zu lenken begann; „trendy“ nicht minder aus der Sicht des Hohenzollern-Kaisers, dessen Auge schon seit ge­raumer Zeit, zumal vor dem Hintergrund der Propaganda für die deutsche Flottenpolitik, wohlwol­lend die Erfindungen des umtriebigen und überaus erfolgreichen Filmpioniers Oskar Messter begleitete.

Was in jenem Kinematographen-Theater geschah, hat uns im gleichen Jahr der Schriftsteller und Dra­maturg Berthold Viertel in einem Bericht für die Zeitschrift „März“ überliefert:

Sie (die Monarchen. KK) sahen dort sich selber zu. Sie sahen ein getreues Abbild ihrer selbst, welches zu sprechen, zu grüßen oder zu lachen schien. Und das Publikum im Bilde applaudier­te. Und das Publikum im Zuschauerraum applaudierte auch. Und die Monarchen im Bilde dank­ten. Und die wirklichen Monarchen dankten in der Wirklich­­keit. Aber plötzlich riß ein Film, und es ward dunkel. – Bei dieser Stelle des Berichtes lief es mir kalt über den Rücken. Wie? ging dieser Riß auch durch die Wirklichen? Und mit Entsetzen fragte ich mich: ja, wer ist denn hier der Wirkliche?“1

Der Form nach ist Viertels Text, ganz in der Diktion der aufgeklärten Kritik der spätwilhelmini­­schen Phase, eine anti-monarchistische Satire. Er enthält indessen, in nuce, bild- und medien­theo­retische Reflexionen, die vom Gestus der Satire ins Spielerische, auch ins Verspielte gewendet, aber nicht verdeckt werden. Im Gegenteil wird sich zeigen, daß das theoretische Potential dieses kleinen Feu­illetons erheblich ist und, an einer Schnittstelle der „klassischen Moderne“, bereits den Diskursen der Postmoderne vorausleuchtet.

Berthold Viertel treibt ein Vexierspiel mit Duplizitäten und Scherz mit einem Entsetzen, das eine lange Vorgeschichte hat und auf den Bilderstreit frühchristlicher Jahrhun­derte zurückweist. Im Wiener Aktualitätenkino bricht eine alte Frage auf: sind Bilder überhaupt erlaubt – und darf die Verehrung, die dem Bild entgegenschlägt, dem Bild selbst gelten oder nicht vielmehr allein dem in ihm Dargestellten? Basilius der Große formuliert bereits im 4. Jahrhundert die Grundthese, die den kirchengeschichtlichen Bilderkampf der folgenden Epochen überdauern und die kirchliche Politik des Bildes bestimmen wird. Danach ist die Versenkung des Gläubigen vor dem Bildnis hingebungsvolle Andacht: die Form der Verehrung, die er dem im Bild veranschaulichten Göttlichen entgegenbringt. Das Ur­bild des Bil­des ist reiner Geist und entzieht sich unserem Auge; was wir im Bilde sehen, kann nur sein Zeichen sein. Gregor von Nazianz und Johannes Chrysostomos unterstützten diese These; andere Kirchenväter wie Eusebios von Caesarea wider­sprachen ihr auf das heftigste – in der sicher berechtigten Annahme, daß Geist und Au­ge der Sterblichen unstet seien, daß auch im Zustand der Versenkung die An-schau­ung gegenüber der An-dacht, das Bild gegenüber dem Verbildlichten die Übermacht behalten werde. Die „Veränderung der Lebenswelt“ und das „Erwachen des kritischen Bewußtseins“ – so Erich Auerbach über die Rezeption biblischer Texte in der abendländischen Kulturgeschichte – leisten das Ihre, um den „Herrschaftsanspruch“ der Kirche über das Universum der Bil­der und Texte ins Wanken zu bringen und „die von ihnen losgelöste Lehre (…) zu einem körperlosen Gebilde“ werden zu lassen.2

Bilder sind eine Verdopplung der Wirklichkeit, und die Bilder der mechanisch-technischen Medien treiben die Verdopplung auf die Spitze. Jede Verdopplung impliziert eine ambivalente Situation, in der sich Schaulust und das Erschrecken über einen Tabubruch mischen, bis das Vergnügen an der Abbildung die Oberhand behält – eine Ambivalenz, die wir nur darum nicht mehr wahrnehmen, weil wir von Bildern längst umzingelt sind und uns daran gewöhnt haben, sie zu ignorieren, indem wir sie inhalieren. Auch die angeblichen Schockerfahrungen des frühen Kinopublikums, konfrontiert mit den ersten be­wegten Bildern, hat es vermutlich nicht gegeben. Dennoch ist das „Ent­setzen“, das Ber­thold Viertel befällt, nicht nur Satire, sondern auch: Simulation. Rekonstruktion eines Irritationseffekts, der aus dem unver­mittelten Zusammentreffen des Wirklichen mit seinem maßstabsgerechten Abbild resultiert – und der sich verstärkt, wenn der Be­trachter in eine Situation versetzt wird, in der er sich selbst betrachtet.

Eben dies ist die Situation der beiden Monarchen im Wiener Kino von 1910: „Sie sahen ein getreues Abbild ihrer selbst, welches zu sprechen, zu grüßen oder zu lachen schien.“ Das Hofprotokoll wird sie auf diese Situation vorbereitet haben, so daß der Über­raschungseffekt gering zu veranschlagen ist. Überdies befinden sie sich nicht in der Lage jener „Wilden“, die den Berichten früher Forschungsreisender zufolge angesichts ih­res eigenen Spiegelbildes (und später angesichts ihres fotografischen Konterfeis) von ei­nem maßlosen Schrecken erfaßt wurden. Gleichwohl ist zu vermuten, daß in Viertels iro­nisch gespieltem „Entsetzen“ dieses präzivilisatorische Trauma virulent ist und, gleichsam mit einem Augenzwinkern, in die satirische Komposition eingefügt wird.

Daß es zwei Kaiser sind, die sich in den Bildern einer frühen Wochenschau selbst gespiegelt sehen, hebt die labyrinthische Anordnung auf eine politische Ebene und stellt zugleich ihren Anschluß an die Ästhetik und an die Repräsentationsgestik einer höfischen, in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg bereits obsoleten Kultur her. Die Kinema­to­graphie verlängert hier nur die Herrscher-Ikonographie der europäischen Hof­ma­lerei, des visualisierten „Herrscherlobs“, das es bereits zur römischen Kaiserzeit zu einer eigenen literarischen Gattung gebracht hatte.3 Die Topik der Herrscher-Pan­e­gy­rik wandert durch die epische Poesie der folgenden Jahrhunderte weiter, und sie gewährt sogar, wie Ernst Robert Curtius nachgewiesen hat, dem Komischen einen gewissen Spiel­raum, einer „Po­larität“ von Scherz und Ernst4, die von der klassischen Hofmalerei wieder verdrängt wird und sich in der subalternen Kameraperspektive der Kaiser-Wochenschauen in den ersten beiden Kino-Jahrzehnten erst recht nicht entfalten kann (al­len­falls gibt es Scherzo-Momente, die der gefilmte Monarch selbst vor der Kamera produziert). Eine ganz anders ge­artete und in der Tat abgründige Komik, die in der von Berthold Viertel beschriebenen Kino-Situation versteckt ist, wird im folgenden noch zu behandeln sein.

Die so leere wie pompöse Hohenzollern-Pose (sofern denn in der merkwürdigen Kaiser-Dou­blette die Ikone Wilhelms isoliert betrachtet werden kann) weist indessen eine ge­heime Affinität zur Re­präsentation des Fürsten im Trauerspiel des deutschen Barock auf, einer Figur, der Walter Ben­­jamin das „Paradigma des Melancholischen“5 zugeschrieben hat. Krone, Purpur und Szepter, als „Requisiten im Sinne des Schicksalsdramas“6, sind zu Beginn des 20. Jahrhunderts definitiv Staffage, aber noch als solche erinnern sie da­ran, daß das Bild des Hofes manches ge­mein­sam hat mit dem „Bild der Hölle, welche ja die Stätte der ewigen Traurigkeit genannt wird.“7 Daß in der Hohlheit der wilhelminischen Repräsentation und Selbstpräsentation die ace­dia – also die mittelalterliche „Träg­heit“, Erbsünde und Kern der „Melancholie des Tyrannen“8 – gleichsam als Parodie der Pa­rodie sich wiederholt (denn schon der barocke Fürst war ja eine De­generationsform des antiken Imperators), mag eines der tiefer liegenden Motive jenes „Ent­setzens“ sein, mit dem der Ironiker Berthold Viertel feuilletonistisch spielt.

Zu den politisch-kulturhistorischen Brüchen gesellt sich der technische, den das neue Medium inauguriert: gerade als Gegenstand des industriell erzeugten kinematischen Bil­des enthüllt die dynastische Inszenierung dem zeitgenössischen Blick ihren moribunden Zustand. Das Medium dekonstruiert seinen Gegenstand, das (technische) Bild das in ihm Verbildlichte. Und der leibhaftige Kaiser im Kino, vis-à-vis mit der vom technischen Me­dium aufgedeckten Operettenversion seiner auratischen Gestalt, erweist sich als das, was er historisch war: eine komisch-fürchterliche oder zum Fürchten komische Figur.

Eine diabolische Steigerung erfährt diese unfreiwillige Karikatur durch deren dop­pelte Akklamation, für die gleichermaßen das wirkliche und das im Filmbild wirklich-ab­gebildete Volk in Dienst genommen wird. „Und das Publikum im Bilde applaudier­te. Und das Publikum im Zuschauerraum applaudierte auch. Und die Monarchen im Bilde dank­­ten. Und die wirklichen Monarchen dankten in der Wirklichkeit.“ In einem Wiener Ki­no von 1910 wiederholt sich exemplarisch eine Situation, die schon den Kirchenvätern des 4. Jahrhunderts Rätsel aufgegeben und zum langwährenden Bilderstreit geführt hat. Gilt die Verehrung der Massen „wirklich“ dem im Bilde verbildlichten gött­lichen Prinzip (als welches sich ja selbst die vom Untergang gezeichneten Monarchien Wilhelms und Franz Josephs noch begriffen haben) – oder gilt sie nicht vielmehr dem Bilde selbst, dem Ob­jekt verschwiegener, aber unbändiger Schaulust und Stimulator ungehemmter Phantasiekräfte, die weder Kirchenväter noch wilhelminische Zensoren in ihre Schranken weisen konnten?

Auch hier treibt die Technizität der Anordnung die labyrinthische Situation auf die Spitze. Das flimmernde Bild auf der Leinwand muß den beiden Monarchen gleichzeitig als „Wirklichkeit“ und als deren (magische) Überhöhung erscheinen. Sie danken dem Pu­blikum – so schreibt es das Hofprotokoll vor. Ohne sich dessen bewußt zu werden, dan­­ken sie vermutlich auch der technischen Apparatur, der artifiziellen medialen Instellation, die es ihnen ermöglicht, ihrer majestätischen Schaulust Genüge zu tun und sich selbst im vol­len Ornat zu bewundern: dem Volke dankend.

Den (wahrscheinlich erfundenen) Film-Riß arrangiert Berthold Viertel, durchaus konse­quent, als Riß, der durch Welt und Wirklichkeit geht: als erkenntnis- und wahrneh­mungs­theoretisches Drama. „Wie? ging dieser Riß auch durch die Wirklichen? Und mit Ent­setzen fragte ich mich: ja, wer ist denn hier der Wirkliche?“ Gleichsam als tragisches Sa­tyrspiel folgt der heimtückischen Dekonstruktion der monarchischen Aura das ontologi­­sche Problem: die Frage nach der Wirklichkeit des Wirklichen, nach der Konsistenz des Sichtbaren und nach der Hyper-Realität der Bilder – eine Frage, die sich in ihrer zugespitz­ten Form erst seit der Erfindung der mechanischen Abbildungs­maschinen stellt. Greift Viertel der „Post­moderne“ voraus? Vermutlich befindet er sich längst inmitten ihrer Aporien, wie im folgenden zu zeigen sein wird.

In seinem Bericht für die Zeitschrift „März“ fährt Berthold Viertel fort: „Ich bringe es nicht mehr aus dem Bewußtsein, dieses furchtbare Doppelgängertum der Repräsentation. Der auserwählte Eine, der einfach dadurch, daß er geht und spricht und grüßt, und zwar möglichst typisch geht und spricht und grüßt, den Völkern ihre Existenz zur Evidenz bringen soll – doppelt!? Darf man die Gnade so frevelhaft vervielfältigen? Ist es nicht zuviel für einen Moment, zwei, nein, vier Könige? Dort oben, im Bilde, erfüllt einer seine hohe Pflicht, und unten, im Zuschauerraum, sitzt derselbe einfach als Mensch, der sich am Konterfei seiner Würde menschlich ergötzt? Oder erfüllt er dadurch wieder nur seine Pflicht? Wo beginnt, wo endet die Repräsentation? Und das Volk, hier zweimal vor­handen, und darum zweimal glücklich, seinem eigenen Jubel zujubelnd, sein naives Volk-Sein im Spiegel begrüßend. Ist das nicht gefährlich? Könnte das Volk nicht erschrecken, als ob es sein eigenes Gespenst erblickte?“

Die labyrinthische Anordnung im Wiener Kino von 1910 erweist sich als in des Wortes zwiefachem Sinne „hybrid“: als „übersteigert“ durch die Verdopplung der Verdopplung, die der Kaiser-Ikone widerfährt – und als „Mischung“ aus physischer Präsenz und bildlicher Repräsentation. Und gerade als hybride Konstruktion nimmt sie am Ende, abermals, eine Wendung ins Politische. Das monarchische Prinzip ist vierfach repräsentiert, und das „furchtbare Doppelgängertum der Repräsentation“ ist darum so furchtbar, weil die kaiserliche Aura in ihrem vierfachen Vorhandensein sich selbst destruiert. „Darf man die Gnade so frevelhaft vervielfältigen?“ Die hybride Konstellation schlägt in Hypertrophie um: es sind einfach zu viele Kaiser im Raum. Wie in einem Panoptikum decouvriert sich ein System, das an seiner „Fett­sucht“, an seinem „Sättigungs- und Unbeweglichkeitsprinzip“ erkrankt ist und „durch Über­produktion zur Strecke gebracht“ wird (oder vielmehr: sich selbst zur Strecke bringt): dies sind Umschreibungen, mit denen Jean Baudril­lard9 die letalen Züge der nach-modernen Zivilisation definiert – und die nicht minder genau das Ende des aristo­kra­tischen Projekts zu Beginn unseres Jahrhunderts auf den Begriff bringen. Die Medien­konstellation in Wien nimmt sich aus wie eine Ver­suchsanordnung, wie ein infam eingefädeltes Experiment, das die historische Lage einem wachen Verstand mit höhnischer Präzision sinn­fällig werden ließ.

Zu berücksichtigen ist in dieser fatalen Konstruktion, daß wir es weniger mit zwei realen Menschen und ihrer filmischen „Abbildung“ als mit zwei Bildträgern und ihrer Verdopplung zu tun haben: auch Wilhelm und Franz Joseph, in ihrer Leibhaftigkeit, sind ja nichts anderes als Vermittler, Träger von „Bildern“: lebende Verbildlichun­gen des aristokratischen (letztlich göttlichen) Prinzips. Der Wochenschaufilm, als Bild des Bildes, wirft ihnen ihre Aura wie ein Spiegelbild zurück. Von fern spielt das Motiv von der Unheimlichkeit des Spiegelbildes, zumal des verlorenen, hier mit: der Filmriß, der das Abbild von der Leinwand wischt, ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als Metapher für den grausigen Tod, den sterben muß, wer sich dem Teufel verschrieben hat. Diese Motive gehören, wie das des Doppelgängers und der Ich-Spaltung, der späten Romantik und dem Schauerroman des 19. Jahrhunderts an, aber es ist kein Zufall, daß gerade der frühe deutsche „Autorenfilm“ vor dem Ersten Weltkrieg sie wiederbelebt. Eine Va­riante finden sie in den angstvollen Reaktionen auf die ersten technischen „Spiegel­bilder“, die Daguerreotypie und Fotografie ermöglichten: in der Furcht vor der „Leichen­star­re“ in den Zügen des Abgebildeten, vor dem Konterfei als Grab.

Die Fotografie, lesen wir bei Vilém Flusser, sei ein Spiegelbild, das die Flüchtigkeit des traditionellen Spiegelbildes „überwindet“, es in die „Ewigkeit“ aufhebt.10 Der Film funktioniert offensichtlich anders: den movies zugewandt, kehrt unsere spiegel­süch­ti­ge Wahrnehmung aus der Ewigkeit der stills in die Flüchtigkeit des fließenden Lebens und seiner Spiegelungen zurück. Aber was ist überhaupt ein Spiegelbild? Flusser „zö­gert“, den Spiegel ein „Werkzeug“ zu nennen.11 Werkzeuge, meint er, haben „einen ethi­schen und politischen Charakter“. Spiegel funktionieren anders: sie dienen der „Selbst­be­trach­tung und der Selbsterkenntnis.“ Und: „Sie sind reflexiv, spekulativ und epi­stemo­lo­gisch. Das Werkzeug richtet den Blick auf die Welt, der Spiegel wendet ihn nach innen. Und er vollführt diese Wendung so, daß man dabei aus sich selbst in den Spiegel heraustritt, um, in dieser Weise außer sich, sich selbst zu betrachten. Der Spiegel dient dem Au­ßer­sichsein, der Verfremdung, dem Wahn­sinn.“

Nun ist die Kinematographie zweifellos ein Werkzeug, das den Blick auf die Welt richtet – gerade diese Qualität wurde ja den ersten bewegten Bildern mit Emphase zu­geschrieben und von den Rezipienten gefeiert. Wird der Betrachter in die Situation ver­setzt, sich auf der Leinwand selbst zu betrachten, so fällt der Blick auf die Welt mit der „Wen­dung nach innen“, mit dem „Wahnsinn“ der Selbstbegegnung zusammen. Zu vermu­ten ist allerdings, daß solche „Verfremdung“, also die klassische Spiegel-Situation, durch das Filmbild abermals verfremdet wird. Jedenfalls gleicht der Vorgang im Wiener Kino von 1910 einer Video-Installation, die jeder Amateur im Selbstversuch praktizieren kann: jener Begegnung mit sich selbst, die dadurch möglich wird, daß der Aufnehmende die Videokamera an den Recorder anschließt, das Fernsehbild einschaltet und sich vor die Kamera stellt. Die neue Technik fügt dem Ereignis die Echtzeit hinzu, aber strukturell ist der Effekt derselbe. Hier wie dort handelt es sich um eine Installation zur Ermöglichung des ganz normalen Alltagswahnsinns im Universum der technischen Bilder.

Wesenhaft immanent ist der Wiener Installation die Komponente des Komischen, die als integraler Widerpart des Tragischen aus Haupt- und Staatsaktionen mit gekrön­ten Prot­­agonisten nicht fortzudenken ist, zumal dann, wenn es sich um historisch verspä­tete Veranstaltungen handelt. Schon Henri Bergson hat, in seinen Überlegungen zur abgründigen Natur des Lachens, herausgefunden, daß der Duplizität per se eine bösartige und wo­möglich verzweifelte Komik innewohnt. Wie kann ein Mensch – zweimal sein? Berg­son stellt sich Pascals Frage: „Warum werden zwei ähnliche Gesichter, deren jedes für sich nichts Lächerliches hat, nebeneinander durch ihre Ähnlichkeit lächerlich?“ Seine Ant­wort: „Aus dem nämlichen Grunde, aus dem die Gebärden eines Redners, deren jede für sich nichts Lächerliches hat, durch ihre Wiederholung lächerlich werden. Das wahrhaft lebendige Leben soll sich eben nie wiederholen.“12

Der doppelte Kaiser ist so komisch wie der doppelte Narr. Nicht nur der Zirkus lebt von der Zwei-Einheit der Clowns, die sich im je anderen spiegeln und sich gegenseitig zu übertölpeln suchen – auch die Dramatik des Komischen in der Theatergeschichte, bis zu Becketts Duo Wladimir und Estragon in „Warten auf Godot“, kennt die Doppelfigur des Narren: des „homme machine“, der sich seiner selbst entledigen möch­te und sich statt­dessen vervielfältigen muß. Die Technizität der Kinematographie fügt dem Wesenhaft-Komischen des Verdopplungseffekts ein mechanisches Moment hinzu, das die Mecha­­nik der Duplizität von realem und real-abgebildetem Vorgang unterstreicht: „Und die Monar­chen im Bilde dankten. Und die wirklichen Monarchen dankten in der Wirklichkeit.“ Auf das Komischste und zugleich auf das Erschreckendste sichtbar, weil gleichsam auf das Skelett reduziert, erscheint hier: der Mechanismus des Rituals, des zeremoniellen „Designs“.

In der verdoppelten Verdopplung verschlingt sich die Spirale der Wahrnehmung schließ­lich zum Knoten, zur „entsetzlichen“ Frage: „Wer ist denn hier der Wirkliche?“ Und was ist das überhaupt: Wirklichkeit? Anders gefragt: „Wo beginnt, wo endet die Re­prä­sentation?“ Der Begriff, den Berthold Vier­tel noch im traditionellen Sinn handhabt, an­­tizipiert gleichwohl moderne Bild- und Medien­theorie: die Frage nach dem Repräsentan­ten und dem Repräsentierten, nach signifiant und signifié. Wenn die beiden Monarchen, jeweils als „Bildträger“ ihrer kaiserlichen Aura, sich im Bildträger Film gedoppelt sehen, entsteht in der Tat ein closed circuit, der die Frage nach seinem Anfang und seinem Ende aufwirft und sie zwangsläufig unbeantwortet läßt.

Die Repräsentierten, im traditionel­len Verständnis, stellt „das Volk“, auch dieses „zweimal vor­handen, und darum zweimal glücklich, seinem eigenen Jubel zujubelnd, sein naives Volk-Sein im Spiegel begrüßend.“ Die politische Frage, ob dies nicht gefährlich sei (für das Volk selbst nämlich, das wo­möglich vor seinem eigenen Gespenst erschrecken könnte), wird nur wenige Jahre spä­ter der frühsowjetische Revolutionsfilm in einem diametral entgegengesetzten Sinne beant­worten. Er nobilitiert das Kino zum Massen-Me­dium, in dessen Spiegel die (re­volutionär agierenden) Massen sich selbst begegnen, sich als selbst­­bewußtes Subjekt der Geschichte erkennen (sollen): eine neue Politik des Bildes, die den principe als sichtbares und das Prinzip des Göttlichen als unsichtbares Zentrum der Ikonographie verdrängt; bekanntlich veranlaßt sie Le­­nin, die Kinematographie zur „wichtigsten aller Künste“ zu ernennen. Ironischerweise wer­­den freilich die Kinozuschauer im revolutionären Rußland nicht wesentlich anders rea­gieren als das Publikum im Wien von 1910 – „sein nai­ves Volk-Sein im Spiegel begrüßend“ und von seinem eigenen Jubel berauscht.

In der Mas­senregie der Nationalsozialisten und den kinematographischen Spiegel-Installationen der Riefenstahlschen Reichs­parteitagsfilme wird dann der Rausch ins Koma des Bewußtseins kippen, wird ein be­täubtes Volk sich selbst sehen – ohne zu ahnen, daß es sein eigenes Gespenst agieren sieht. Erst mit den Talk- und Gameshows des heutigen Fernsehens, vor allem aber mit den Großbildschirmen der aktuellen Event-Dramaturgien wird das ideologisch überdeterminierte, von moderner Magie besetzte Phantasma vom „Volk, das sich selbst sieht“ zum medialen Ornament ausgekühlt: zur Normalität eines bis zur Bedeutungslosigkeit selbstreferentiellen, aber rundum demokratischen Alltagswahns.

Erstveröffentlichung in:

Thomas Elsaesser / Michael Wedel (Hrg.): Kino der Kaiserzeit. Zwischen Tradition und Moderne. München 2002, S. 293-302

1 „März“, Jg. 4, Bd. 4, 1910, S. 173-74, hier zitiert nach: Bernhard Zeller (Hrg.), Hätte ich das Kino! – Die Schriftsteller und der Stummfilm, München/Stuttgart 1976, S. 24 ff.

2 Erich Auerbach, Mimesis – Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern 1946, S. 18

3 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, S. 78

4 Ernst Robert Curtius, a.a.O., S. 423 ff.

5 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Schriften, Bd. I, Frankfurt/M. 1955, S. 266

6 Walter Benjamin, a.a.O., S. 279

7 Walter Benjamin, .a.a.O., S. 267

8 Walter Benjamin, a.a.O., S. 279

9 Jean Baudrillard, Die magersüchtigen Ruinen, in: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hrg.), Rückblick auf das Ende der Welt, Augsburg o.J., S. 81

10 Vilém Flusser, Minkoffs Spiegel, in: V.F., Schriften, Bd. I, Bensheim und Düsseldorf, S. 229

11 Vilém Flusser, a.a.O., S. 227

12 Henri Bergson, Das Lachen, Meisenheim 1948, S. 24