Blickstrategien in der frühen Kinematografie

Von Klaus Kreimeier

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Wie wurde das Kino zu einer Erzählinstanz – zu einem Medium, das uns mit seinen Geschichten zu fesseln versteht? Was kennzeichnet die Narration im Film, und wie sahen ihre Anfänge in der Frühgeschichte des Mediums, in der Jahrmarkts- und Varieté-Kinematografie und in den ersten Laden- und Kneipenkinos aus? Auf Fragen wie diese haben die Filmhistoriker widersprüchliche Antworten gegeben. Populär war lange Zeit die summarische These, die Brüder Lumière hätten den Dokumentarfilm, der Trick-Zauberer Georges Méliès den Spielfilm ‚erfunden’. Sie erwies sich bald als unhaltbar; ebenso zeigte sich, dass die simple Unterscheidung zwischen ‚ungestellt’ und ‚inszeniert’ schon für die Anfänge des Kinos produktions- wie wirkungsästhetisch untauglich ist. Siegfried Kracauer hat in seiner Theorie des Films den Versuch unternommen, diese und ähnliche Dichotomien theoretisch zu untermauern, und analog zur Fotografie für den Film „zwei Haupttendenzen“, die „realistische“ und die „formgebende“ Tendenz vorgeschlagen: „Ihre Exponenten waren Lumière, ein strikter Realist, und Méliès, der seiner künstlerischen Fantasie freien Lauf ließ.“2 Allerdings hat auch Méliès, der mit ingeniösen Filmtricks und phantasievollen Erzählungen berühmt wurde, als ‚Dokumentarist’ begonnen und, wie er selbst berichtet3, als sein eigener Kameramann in den Straßen von Paris den Stoptrick ‚erfunden’. Umgekehrt ist ein Inkunabel-Werk der Filmgeschichte, Lumières L’Arrivée d’un train en gare à La Ciotat (1895), der ‚dokumentarisch’ die Einfahrt eines Zuges auf einem Provinzbahnhof zeigt, eine ‚gestellte’ Aufnahme und wurde unter gezieltem Einsatz inszenatorischer Mittel gedreht.

Fragen, die mit der Wahrnehmungsorganisation und der Blicksteuerung, also mit der Zuschauerposition im Kino zusammenhängen, wurden von der klassischen Filmgeschichte und Filmtheorie (Georges Sadoul, Jean Mitry, Siegfried Kracauer) nicht problematisiert. Erst mit der sog. New Film History seit den späten 1980er und frühen 1990er Jahren (David Bordwell, Tom Gunning, Thomas Elsaesser u.v.a.) werden sie zum Gegenstand filmwissenschaftlicher Diskurse. Dies gilt besonders für die seit ca. drei Jahrzehnten verstärkte Auseinandersetzung mit der frühen Kinematografie (1895 bis ca. 1915) und für die Bemühungen, dem Medienumbruch um 1900 mit einem adäquaten theoretischen Instrumentarium zu begegnen. Im Zentrum der neueren Diskurse stand – und steht bis heute – Tom Gunnings Konzept des cinema of attractions, das viel zum Verständnis der frühen Kinematografie beigetragen hat. Das ‚Attraktionskino’, so Gunning mit Verweis auf eine Bemerkung Fernand Légers, sei gekennzeichnet durch seine „ability to show something“; als Konzept der Jahrmarktskultur sei es darauf angelegt, uns eine Sensation vor Augen zu führen, und entwickle in seinem Bestreben, die Sinne des Zuschauers zu erregen, eine nachgerade „exhibitionistische“ Qualität. Die Beziehung zum Zuschauer werde durch den Blick der Akteure in die Kamera definiert:

From comedians smirking at the Camera, to the constant bowing and gesturing of the conjurors in magic films, this is a cinema that displays its visibility, willing to rupture a self-enclosed fictional world for a chance to solicit the attention of the spectator.4

Tatsächlich prägen der Zeige-Gestus, die Darbietung einer ‚attraktiven’, spektakulären oder sensationellen Aktion, die demonstrative Ausstellung des Körperlichen und der frontale Blick der Protagonisten in die Kamera das Jahrmarkts- und Varieté-Kino um die Jahrhundertwende. Sie sind die ästhetischen Konstituentien der mit starrer Kamera gedrehten, aus einer einzelnen Einstellung bestehenden, meist auf den Auftritt eines Artisten oder einer Artistengruppe konzentrierten Kurzfilme dieser Zeit.

Allerdings wurde die Attraktionsthese vielfach verabsolutiert. Für manche ihrer Verfechter ist das Kino vor 1910 mit einigen Ausnahmen eine spektakuläre, aber letztlich ‚primitive’ und in sich abgeschlossene, den Vergnügungen des Jahrmarkts verhaftete Bilderwelt. Gestützt wird diese Auffassung durch den Vorschlag von Noël Burch, in der Kinematografie zwischen einem „institutional mode of representation“ (IMR) und einem „primitive mode of representation“ (PMR) zu unterscheiden.5 So sei das Jahrmarktskino der ersten zehn bis fünfzehn Jahre mit seinen Bühnen- oder Zirkusattraktionen noch eine Form „primitiver“ Repräsentation. Überwunden werde sie erst mit der Institutionalisierung des Kinos und seiner marktförmigen Organisation durch Kinobetreiber und Produzenten. Andere Autoren sehen das frühe Kino eher als ein Übungsfeld für die komplexeren Formen des institutional mode of representation. Es sei die Vorschule eines Kinos, das Geschichten erzählt und aus Zeit und Raum eine autonome Welt konstruiert, den Zuschauer somit als Narrationsinstanz in seinen Bann zieht. David Bordwell hat dieses Kino (das von den 1920er Jahren an die Hollywood-Studios kanonisieren werden) ein „cinema of narrative integration“ genannt, „which absorbs cinematic techniques and engaging moments into a self-sufficient world unified across time and space“6.

Tom Gunnings ‚Kino der Attraktionen’ und Bordwells ‚Kino der narrativen Integration’ sind für die Frühphase, in der sich das Medium innerhalb weniger Jahre vom ambulanten Schaustellergewerbe zu den großstädtischen Lichtspielpalästen entwickelt, hilfreiche Umschreibungen – für eine dogmatische Kategorisierung taugen sie jedoch nicht. ‚Attraktion’ und ‚Narration’ sind im übrigen nicht strikt zu trennen. Es ist vielmehr zu beobachten, dass schon im Attraktionskino vereinzelt Elemente des Erzählens auftauchen, und dass sich bereits im einzelnen bewegten Bild (verstanden als Kameraeinstellung) gleichsam in nuce das Geschichtenerzählen versteckt. Wie kommt es von den um 1900 dominierenden sehr kurzen one shot-Attraktionen zu den frühen Formen der Narration? Um diese Frage zu beantworten, ist es sinnvoll, zunächst das filmische, d.h. technisch in Bewegung gesetzte Bild als eine neue Qualität zu beschreiben: als eine Innovation, die sich im höchst komplexen Feld der Unterhaltungsangebote im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert gegen ältere optische Medien durchsetzt und einen Umbruch der Wahrnehmungsgewohnheiten bewirkt.

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Nach Gilles Deleuze verändert das ‚Bewegungs-Bild’ den Modus, in dem wir Welt und Wirklichkeit betrachten, erheblich; es reproduziert den jeweils dargestellten Gegenstand nicht mehr wie frühere Illusionsmaschinen. Es scheint vielmehr „eine grundsätzlich abweichende und anormale Bewegung“ zu sein. Es konstituiert eine neue multiperspektivische, „autonome, mittelpunktlose Welt“. Es „erzeugt Brüche und Disproportionen und richtet sich an einen Zuschauer, der selbst nicht mehr Zentrum seiner eigenen Wahrnehmung ist.“ 7 Wenn aber das Zuschauerbewusstsein, als Adressat und betrachtende Instanz, gleichsam ‚ortlos’ wird, stellt sich die Frage nach dem Status seiner Subjektivität. Der Film, so Deleuze, konstruiert nicht nur eine vom Bewusstsein des Zuschauers (scheinbar) unabhängige autonome Wirklichkeit – er übernimmt es auch, den Wahrnehmungsprozess zu organisieren, und sendet beides, die filmische Realität und ihren Perzeptionsmodus, an sein Publikum. „Zum erstenmal in der Kunstweltgeschichte“, so formuliert der Medienwissenschaftler Friedrich Kittler, „implementiert ein Medium den neurologischen Datenfluß selber.“8

Gleichwohl ist der Zuschauer nicht nur reine Projektionsfläche. Keineswegs ist er zur Inaktivität verurteilt, sondern angehalten, die autonom konstituierte Welt auf der Leinwand dank seiner Gedächtnisleistung zu dechiffrieren und kraft seiner Phantasie individuell zu deuten. Ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, adaptiert er die Organisationsmuster des Films als eigene Wahrnehmungs- und Verknüpfungsleistung – und es sind gerade die kinematografischen Mechanismen, die ihn dabei unterstützen. Erstmals geht 1916 der deutsche Harvard-Professor Hugo Münsterberg (in seinem Essay The Photo Play) diesen Fragen nach. Als Psychologe, dem das Kino neue Erkenntnisse über den Menschen erschließt, ordnet er die einzelnen technischen und ästhetischen Verfahrensweisen des Films präzis unseren kognitiven und psychischen Aktivitäten zu. So wie der Zuschauer im Fall einer Großaufnahme den „seelischen Akt der Anteilnahme“ erkennt, entdeckt er in einer Rückblende den „seelischen Akt des Erinnerns“. Prozesse, die gemeinhin von unserem Bewusstsein vollzogen werden, sind „in das Lichtspiel projiziert, in die Bilder selbst.“9

Die Etablierung des Kinos in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg war ein Prozess, der tiefgehenden Umwälzungen im Wahrnehmungsverhalten in der Spätphase der Industrialisierung zuzuordnen ist. Um sie besser zu verstehen, hat Jonathan Crary den Begriff der „attention“, „Aufmerksamkeit“ in die Debatte eingeführt. Aufmerksamkeit geht mit Selektion und Parzellierung der sichtbaren Welt einher; sie impliziert „die unvermeidliche Fragmentarisierung eines visuellen Felds, in dem die einheitliche und homogene Kohärenz der klassischen Modelle des Sehens nicht (mehr) möglich war.“ Nach den ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Umbrüchen des 19. Jahrhunderts erweisen sich tradierte Organisations- und Wahnehmungsmuster wie etwa die Zentralperspektive als obsolet. An ihre Stelle treten nun Konzepte der Heterogenität und Diskontinuität, Selektionsprozesse, „eine Aktivität der Ausschließung, als teilweises Außerachtlassen eines Wahrnehmungsfelds.“10 Mit anderen Worten: Die mediale Repräsentation der sinnlich erfassbaren Welt wird umstrukturiert, zunächst in den klassischen Künsten, in der Malerei (Impressionismus), in der Literatur (Expressionismus), vor allem aber auch im neuen Medium Film. Ein ‚neues Sehen’ nimmt die kinematischen Techniken in seinen Dienst. Die Kinematografie wird zu seiner gesellschaftlichen Institution.

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Massenmedien unterscheiden sich vom Kunstsystem oder dem bildungsbürgerlichen Literaturbetrieb des 19. Jahrhunderts darin, dass sie auf die Wahrnehmungspotentiale großer Kollektive in komplexen Gesellschaften Einfluss nehmen und deren Aufmerksamkeit zu steuern suchen. Tiefenwirkung und ökonomischer Erfolg stehen dabei in einem komplizierten, keineswegs monokausalen Verhältnis. Schon die Wanderkinematografen, nach ihnen die Unternehmer, die etwa ab 1905 in Europa und den USA die ersten ortsfesten Kinos eröffnen, müssen aus ökonomischen Gründen lernen, dass ihre Zuschauer schwierige Wesen mit vielfältigen emotionalen und kognitiven Bedürfnissen sind. In den Jahren vor der Durchsetzung des langen Spielfilms (ab 1910) besteht ihre Strategie darin, kurze und mittellange Streifen aus den unterschiedlichsten Genres (Drama, Komödie, Groteske, Landschaftsbilder, geografische Sehenswürdigkeiten, ‚Aktualitäten’) zu einem Programm zusammenzustellen, das gleichermaßen sein Publikum zu unterhalten wie seine Neugier, also sein Informationsbedürfnis zu befriedigen vermag. Für die Programmveranstalter gilt es zu lernen, was ‚Programm’ und ‚Programmieren’ bedeuten – und dass jegliches Angebot bewegter Bilder einer Struktur folgen muss, die Erwartungen berücksichtigt und bestimmten Rezeptionsmodalitäten entspricht. Es sei unangemessen, so drückt es das britische Fachblatt Kinematograph and Lantern Weekly 1911 drastisch aus, nach einem starken, an Höhepunkten reichen Drama das Publikum, „das derart außer sich ist und zum Nachsinnen gebracht wurde, in eine saftige, brüllende Komödie zu katapultieren.“ Besser sei es, etwas folgen zu lassen, „was die Augen erfreut und den Geist beruhigt, ohne dabei irgendwelche emotionalen Saiten anzuschlagen“.11

Die Zusammensetzung der frühen Kinoprogramme wird zu einem präzis ausbalancierten System, das, von kommerziellen Erwägungen gelenkt, innerhalb eines gegebenen Rahmens eine erfolgversprechende An- und Zuordnung unterschiedlichster Bausteine ermöglicht. Ganz unabhängig von der Qualität oder gar Aktualität der einzelnen Teilelemente verlangt ein ‚neues’, von Industrie, Technik und städtischen Erfahrungen geprägtes Publikum vor allem Vielfalt der Sinneseindrücke –und es honoriert den als angenehm empfundenen Kontrast. Bereits im Zirkus, im Varieté oder in den ambulanten Spezialitätentheatern erprobt, bildet das Nummernprogramm den Kern des internationalen Filmgeschäfts, das sich in Europa wie in den USA „als eine vom Aufführungssektor her gesteuerte Industrie“12 entwickelt. In dem Maße, wie die frühen fiktionalen oder nicht-fiktionalen ‚Genres’ an Komplexität gewinnen, wird das Programmieren kurzer ‚Attraktionen’ zu einer professionellen Herausforderung für die Kinobetreiber. Von nun an, unter den Bedingungen moderner Massenkommunikation, macht das ‚Programm’ als Schema für Unterhaltungs- und Bildungsangebote Karriere: als Regelwerk und Organisationsprinzip, „das die Affekte des Publikums reguliert und festzulegen versucht, auf welche Weise es die Vorstellung erlebt.“13 Ein Schema mit Zukunft: Mit Recht weist der Kommunikationswissenschaftler François Jost darauf hin, dass „die emotionale Führung der Zuschauer auf der Landkarte der Genres“ im frühen Kino der „Zeiteinteilung im Fernsehen“14 vorauseilt. Im Fernsehalltag des späten 20. Jahrhunderts, zumal in den Programmstrukturen der kommerziellen Sender, erreicht die Strategie der Affektregulierung ihren Höhepunkt. Was heute Programmplätze, -schienen und -leisten bewerkstelligen, ist in der noch vom zufälligen Angebot bestimmten Programmierungspraxis der frühen Kinobetreiber bereits angelegt: das ökonomisch motivierte Bestreben, die affektiven Regungen eines Massenpublikums zu nutzen, um seine Aufmerksamkeitspotentiale zu steuern und ‚bei der Stange zu halten’.

Die technische Revolutionierung der Produktionsmittel verschafft den Strategien der Aufmerksamssteuerung, im Vergleich mit den prä-kinematografischen Medien, eine neue Qualität. Das oft beschriebene und vielfach belegte ‚Erstaunen’ des frühen Publikums vor der Kinoleinwand ist das Echo auf eine einschneidende Zäsur. Jost macht für diese spontane Reaktion zwei unterschiedliche Quellen aus: Der Zuschauer bewege sich „zwischen dem Erstaunen angesichts der Reproduktion und der Begeisterung für die Technik selbst“; er bewundere ebenso „die Wiedergabe des Lebens“ wie „die Erschaffung einer eigenen Welt durch den Film“.15 Sein Erstaunen schwankt zwischen der Realitätsnähe der ‚Tatsachenbilder’ (wie sie seit 1895 von den Kameraleuten der Brüder Lumière geliefert werden) und den magisch-phantastischen Szenerien (wie sie Georges Méliès in seinen Trickfilmen entstehen lässt). Hier wie dort ist es die Technik, die nicht nur neue Wahrnehmungen ermöglicht, sondern auch den Zuschauer um so stärker fasziniert, je weniger er von ihr versteht. Ein Artikel aus der Zeitschrift L’Illustration von 1908 belegt das doppelte Faszinosum im Kino, wenn der Autor Gustave Babin hervorhebt, die „Kombination der beiden Genres“, die „Vermischung von Wirklichem und Künstlichem“ werde es möglich machen, „unter Verwendung der ureigenen Mittel des Apparats selbst, des Kinematographen (…), die wunderbarsten Wirkungen zu erzielen, die bis dahin völlig unbekannt und nicht darstellbar waren.“16

Zeitgenössische Aussagen wie diese zeigen ein frühes Gespür dafür, dass dem neuen Medium selbst – über die „Programmierung des Zuschauers“ durch die ausbalancierte Struktur der Programmsegmente hinaus – eine Qualität zu eigen ist, die in älteren Bildmedien angelegt war, sich in ihnen aber noch nicht entfalten konnte: das Vermögen nämlich, den Blick des Betrachters ebenso behutsam wie beharrlich zu dirigieren, ihn mit sanfter Gewalt der zentralen technologischen und ästhetischen Instanz, der Kamera und ihren Manövern zu unterwerfen. Für David Bordwell ist die „Blickführung des Zuschauers (managing what the spectator sees)“, sind die Methoden, „den Fluss visueller Informationen zum Zuschauer zu steuern“ ein wesentlicher Aspekt in der Entwicklungsgeschichte des „visuellen Stils“ in der Kinematografie.17

Da in den Anfängen des Kinos die Kamera noch auf einem festen Standpunkt verharrt, sind die Steuerungsmöglichkeiten noch äußerst begrenzt. Mit der beweglichen Kamera und der Montage wird sich dies ändern; in der Frühzeit jedoch geht es darum, Bewegung und Dynamik innerhalb der einzelnen Einstellung, also auf dem Schauplatz vor dem Kameraobjektiv zu organisieren, die visuellen Verhältnisse im Wechselspiel von Vorder- und Hintergrund, Horizontal- und Tiefenachse ‚zum Tanzen zu bringen’. Auch die ‚Geschichten’, die das Kino in Ansätzen schon erzählt, bleiben in der Regel auf einen Schauplatz beschränkt. Das Kino zeigt noch auf seine Figuren. Umgekehrt gilt: in dem Maße, wie die visuellen Verhältnisse in Bewegung geraten, werden aus den Figuren Akteure, entwickeln sich aus ihren Aktionen kleine Geschichten. Dabei steht die Entfesselung der visuellen Potenzen in einem engen Verhältnis zur Manipulation des Zuschauerblicks: Als Betrachter verfügen wir nicht über die Freiheit, unseren Standpunkt und unsere Blickachse frei zu wählen – der Kamerastandpunkt legt unsere Perspektive fest, und die vom Regisseur organisierten Maßverhältnisse, Bewegungen und Schwerpunktverlagerungen innerhalb des Bildraums lenken unseren Blick, strukturieren unsere Aufmerksamkeit.

In eben diesem Widerspruch von visuellem Reichtum (des Bildes) und begrenzter Freiheit (des Rezipienten) besteht das Novum, das der Film in die Kulturgeschichte bringt. Hier wurzelt auch die Suggestionskraft, die das bewegte Bild, in welcher medialen Gestalt auch immer, bis heute auf seine Betrachter ausübt. Sie ist zwingend der Technik des Mediums inhärent, entzieht sich jedoch einer nur technischen Deutung. Wenn ein Abbildungsverfahren oder (mit einem Begriff Friedrich Kittlers18) ein „Aufschreibesystem“ mit verführerischer Gewalt von unseren Sinnen, unserer Aufmerksamkeit Besitz ergreift, ist mehr im Spiel als eine avancierte Technik, mehr auch als die ökonomische Strategie einiger Konzerne, die sich des neuen Mediums bemächtigt haben. Technische, ästhetische und kommerzielle Interessen wirken zusammen, um unsere Wahrnehmung neu zu organisieren und das Bild, das wir uns von der Wirklichkeit machen, mit ihren Mitteln zu beeinflussen. Umgekehrt gilt: Seit der Erfindung der Kinematografie vertrauen wir uns einer Maschine an, die uns ‚unerhörte Begebenheiten’, reale oder phantastische Geschichten erzählt, die unser Wissen vermehrt, unsere Gefühle bearbeitet und uns nicht selten mit ihren Bildern bis in die Träume verfolgt – und uns dabei unentwegt anleitet, wie wir ihre Bildwelten und Weltbilder zu lesen haben.

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In seiner Interpretation von Edgar Allan Poes Erzählung The Man of the Crowd analysiert der Philosoph Rudi Thiessen den unwiderstehlichen „Sog“, der in Poes Text von den Menschenmengen in der Großstadt ausgeht. Ihm wäre nur „regressiv“ zu entkommen, durch den Rückzug in Subjektivismus und Innerlichkeit, also „um den Preis einer modernen Konstruktion von Modernität“. Daraus folgt: Nur wer den ‚Massenmenschen’ (das Schreckbild konservativer Kulturkritik) akzeptiert und bereit ist, selbst in der Menge immer wieder aufzugehen, hält der Fremdheit stand und gewinnt sich als Subjekt zurück. „Dieses Verschlungen-werden-Wollen hat selbst einen zivilisatorischen Aspekt […].“19 Präzis dieser „Sog“, dieses „Verschlungen-werden-Wollen“ finden ein Pendant in der Haltung des Zuschauers im Kino. In den frühen Laden- und Kneipenkinos mit ihren Minuten-Attraktionen, in denen es noch keine festen Stuhlreihen gibt und ein unstetes Laufpublikum kommt und geht, in denen man sich während der Vorstellung laut unterhält, Witze reißt, isst, trinkt und raucht und sich diebisch über jeden Filmriss, über jede technische Panne freut – in diesen sinistren, aber höchst lebendigen Vergnügungsstätten, für die Hanns Heinz Ewers den Namen „Kientopp“ erfunden hat, ist das Publikum noch ein kommunizierendes Kollektiv. Das Verhältnis zwischen Partizipation und Zerstreuung ist ähnlich ausgewogen wie auf dem Jahrmarkt oder auf der großstädtischen Straße – eine psychische Balance, die nach Georg Simmel dem modernen Menschen hilft, sich „gegen die Vergewaltigungen der Großstadt“ zu wappnen und in der Massengesellschaft „Distanzen“ und Freiräume zu erhalten.20

In dem Maße jedoch, wie sich die Kinematografie institutionell als ein geregeltes Unterhaltungsangebot etabliert und die Kinobetreiber die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf das Produkt, seine Blickrichtung auf die Leinwand zu lenken suchen, verändert sich allmählich das Rezeptionsverhalten. Die Aufmerksamkeitssteuerung durch die Binnenstrukturen des Mediums – David Bordwells „managing what the spectator sees“ – gewinnt an Einfluss. Während die frühen Programmfolgen aus Kurzfilmen unterschiedlichster Genres das Publikum zwar ‚programmieren’, ihm aber auch die Freiheit lassen, seine Aufmerksamkeit nach Maßgabe seiner Interessen zwischen variierenden Inhalten zu ‚streuen’, herrscht in der Rezeption des filmischen Geschehens selbst ein anderes Gesetz. Die Steuerung des Zuschauerblicks durch die Kamera (und sehr bald durch die Montage) erfasst den Betrachter – umgeben von Dunkelheit, in seinen Kinosessel gebannt – in seiner kognitiven, emotionalen, psychischen und physischen Existenz. Eine aktiv erlebte Immersion findet statt: ein ‚Eintauchen’ in die Virtualität filmischer Wirklichkeiten, eine Selbstauslieferung des Zuschauers an die Suggestionskraft der in Bewegung gesetzten Bilder, die das Bewusstsein nicht etwa in einen hypnotischen Tiefschlaf senkt, vielmehr von ihm gewollt und akzeptiert wird und seine gespannte Aufmerksamkeit mobilisiert – mit einer Intensität wie in keinem anderen Medium zuvor. Hugo Münsterberg:

Die Nuancierung der Lichter und die Flecken dunkler Schatten, die Verschwommenheit bestimmter Partien und die scharfen Umrisse anderer, die Ruhe in einigen Teilen des Bildes gegenüber der vehementen Bewegung in anderen – alles spielt auf der Klaviatur unserer Seele und sichert die gewünschte Wirkung auf unsere unwillkürliche Aufmerksamkeit.21

Sehr bald gerät diese ‚Sogkraft’ des neuen Mediums unter einen von Pädagogen, Psychologen und Kriminologen genährten Generalverdacht. Er bestimmt die Kinoreformdebatte in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg und haust in den tieferen Schichten des Misstrauens, das das Bildungsbürgertum gegenüber dem neuen Medium hegt. Dabei handelt es sich auf der Seite des Zuschauers keineswegs um einen Akt mechanischer Unterwerfung unter das Diktat des Mediums. Gewiss folgt die visuelle Wahrnehmung im Kino der Blicksteuerung durch die Kamera – der Zuschauer kann sich der jeweils angebotenen Perspektive und dem raumzeitlichen Kontinuum der sequenziellen Abläufe auf der Leinwand schwerlich entziehen. Doch je tiefer das filmische Geschehen den Zuschauer in seinen Bann zieht, desto mehr verstärkt sich auch seine psychische und kognitive Eigenaktivität, verdichtet sich der Zustand einer aktiv erlebten Immersion als spezifische Bewusstseinsform des Zuschauers im Kino. Mit Recht weist der Filmwissenschaftler Jörg Schweinitz in diesem Zusammenhang darauf hin, dass „das Moment der Immersion (…) immer nur eine Seite des rezeptiven Erlebens im Kino“ sei: „Oszilliert dieses Erleben doch zwischen dem immersiven Moment und dem klaren Sich-bewusst-Sein der eigenen Position als außenstehender Beobachter eines fiktionalen Geschehens.“22 Die Selbstpreisgabe der Wahrnehmungsinstanz ist selbstgesteuert – ein scheinbares Paradoxon, das im Kino, und nur hier, seinen sinnfälligen Ort hat.

Die Gratifikation des Mediums besteht nicht etwa in der Illusion, dass die auf der Leinwand präsentierte Welt ‚wirklich’ sei, sondern in einer Fiktion: in der Einladung an den Rezipienten, sich frei und souverän durch Raum und Zeit zu bewegen und sich zu ihrem Herrn aufzuschwingen, solange ihn das Kinodunkel einhüllt und die äußere Welt – in einem buchstäblichen Sinne – ausgeblendet ist. Komplexere Erzähltechniken wie das schon 1902 von Edwin S. Porter eingeführte, von David W. Griffith weiterentwickelte cross-cutting zwischen parallel verlaufenden Handlungssträngen, also die Parallelmontage, bieten dem Betrachter eine nur im Kino mögliche wahrnehmungsstrategische Omnipotenz an: Er wird zum imaginären Gebieter über die Vielfalt des Räumlichen und die Flucht der Zeit.23 Stets ist sich der Adressat dabei bewusst, dass er an einer Fiktion teil hat, die wiederum nur in dem Maße funktionieren kann, wie er sich ihrer Verführungskraft überlässt. In den ‚atemberaubenden’ Verfolgungsjagden des amerikanischen Slapsticks und des europäischen Großstadtfilms wird das abstrakte Gesetz der Epoche, „die Umdrehung des Raumvorrangs in einen Vorrang der Zeit“ (Hartmut Rosa24) zu einem sinnlich greifbaren, ebenso lehrreichen wie ‚umwerfend komischen’ Spiel. In diesem Spiel sind die Menschen der materiellen Welt ausgeliefert: im ‚Kampf gegen die Uhr’, im ‚Wettlauf’ mit der verrinnenden Zeit, in der Tücke des Objekts und im Furor der Beschleunigung, die den Raum verschlingt und gleichzeitig Zerstörungen hinterlässt.

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Hugo Münsterberg hat erstmals die konstitutiven Bausteine filmischer Wahrnehmung systematisiert: schnelle Milieu- und Rhythmuswechsel und alternierende Szenen, die Nah- und Großaufnahme, die Suggestion von Bildtiefe und dreidimensionaler Realität und das Phänomen der filmischen Bewegung, das sich „keineswegs als bloßes Ergebnis eines Nachbildes erweist“, sondern den realiter bewegungslosen Bildfeldern des Films vom Bewusstsein des Zuschauers „hinzugefügt“ wird.25 Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Phantasie sind die wesentlichen Bewusstseinsleistungen des Zuschauers. Sie ermöglichen es ihm, die vom Filmautor vorgenommene Materialorganisation nicht nur mechanisch zu rezipieren, sondern aktiv und souverän die separaten Elemente der erzählten Handlung, das agierende Personal, die unterschiedlichen Schauplätze sowie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander zu verknüpfen. „Das Lichtspiel folgt den Gesetzen des Bewußtseins mehr als denen der Außenwelt.“26 Und programmatisch: „Das Lichtspiel erzählt uns die Geschichte vom Menschen, indem es die Formen der Außenwelt, nämlich Raum, Zeit und Kausalität überwindet und das Geschehen den Formen der Innenwelt, nämlich Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Phantasie und Emotion anpaßt.“27 Damit postuliert Münsterberg eine nahezu bruchlose Kongruenz zwischen den Funktionsweisen der filmischen Techniken und den Formen der menschlichen Wahrnehmung.

Im Prozess der Evolution hat das menschliche Sensorium gelernt, sich an Veränderungen in seiner Umwelt anzupassen. Unter den Bedingungen der Industrialisierung im 19. Jahrhundert verstärkte sich der Anpassungsdruck. Wolfgang Schivelbusch hat in seiner Geschichte der Eisenbahnreise dargelegt, dass die räumliche Entfernung und mit ihr die Natur selbst „zum Opfer des neuen mechanischen Bewegungsapparats Eisenbahn“ geworden seien. Funktion, Qualität und Richtung der Bewegung hängen nicht mehr von der Natur und ihren Widerständen ab, „sondern von der mechanischen Kraft, die sich ihre eigenen neuen Räumlichkeiten schafft.“28 Die neue Fortbewegungsqualität generiert auch einen neuen Perzeptionsmodus, einen vom Bewegungsapparat diktierten ‚Rahmen’, der dem Betrachter als Reisendem einen technisch determinierten point of view zuweist. Eben hier ist die Schnittstelle zwischen den um 1900 modernen Fortbewegungs- und Wahrnehmungsapparaten anzusetzen. Unter Berufung auf Schivelbusch analysiert Charles Musser die Beziehung zwischen Eisenbahn und Kino als eine enge Relation zwischen Wahrnehmungsdispositiven, die auf Vermittlung zwischen ‚getrennten Welten’, auf Disparatheit fundiert sind:

The traveler’s world is mediated by the railroad, not only by the compartment window with its frame but by telegraph wires, which intercede between the passenger and the landscape. The sensation of separation that the traveler feels on viewing the rapidly passing landscape has much in common with the theatrical experience of the spectator.29

In den zahlreichen railroad movies der Edison Company oder der American Mutoscope and Biograph zwischen 1895 und 1905 gerät das still stehende Einzelbild buchstäblich ‚in Fahrt’. Die Eisenbahn, als Träger der Bewegungsillusion, kreuzt diagonalperspektivisch das Blickfeld wie in dem kurzen Streifen Black Diamond Express (1896), oder sie führt den Blick, wie in den populären Brooklyn-Bridge-Filmen um 1896, zentralperspektivisch in die Tiefe des Bildraums und entwickelt so einen ‚Sog’, der über die visuelle Perzeption hinaus auf das gesamte Sensorium zielt. Dies gilt umso mehr, bald nach der Jahrhundertwende, für den ‚Hyper-Realismus’ der phantom rides, bei denen die Kamera auf die Lokomotive oder einen Waggon montiert war. Hier wurde der point of view mit der passenger-Perspektive verschmolzen und eine Dynamik erreicht, die in idealer Weise die Potentiale des neuen kinematischen Mediums vor Augen führte, bevor sich sehr bald der Bedarf nach komplexerer Narration und mit ihr die Montage Geltung verschaffte. Diese Entwicklung deutet sich schon 1899 in The Kiss in the Tunnel, einem Film des britischen Produzenten George A. Smith, an: In der ersten Einstellung fährt ein Zug, aus einem Tunnel im Hintergrund kommend, in einer Kurve auf die Kamera zu und rechts aus dem Bild heraus. In diesem Moment beginnt auf dem Nebengleis ein phantom ride in den Tunnel hinein; das Bild wird schwarz, es folgt ein Schnitt in ein hell erleuchtetes Abteil. Ein Herr mit Zylinder und eine lesende Dame sitzen einander gegenüber, es kommt zu Zärtlichkeiten und schließlich zu einem herzhaften Kuss. Erneut wird das Bild schwarz, ein abschließender phantom ride führt den Blick aus dem Tunnel in die freie Landschaft – Ende des Films.

Warum erwarten wir, wenn wir eine filmische Kameraeinstellung sehen, eigentlich eine Erzählung? Die Antwort ist simpel: es ist unser Voyeurismus; unsere Neugier darauf, was nicht im einzelnen Bild zu sehen ist. Die Bewegung im Bild verspricht uns – anders als eine Fotografie – , dass „es weitergeht“. Bewegungen weisen auf die Grenzen des Bildfelds – und darauf, dass es ein „beyond“, ein Außerhalb, ein Jenseits des Bildes geben muss. Dass es dieses ‚Jenseits’ des Bildes gibt, ein ‚Darüberhinaus’, das gegen Unendlich tendiert, macht Guido Seeber – Filmtechniker, Produzent und Kameramann – im Sommer 1900 zum filmischen Thema. In diesem Sommer schließt sich das wilhelminische Deutschland der militärischen ‚Strafexpedition’ der imperialistischen Großmächte gegen den sog. ‚Boxeraufstand’ in China an. Seeber filmt Ende Juli in Bremerhaven die Einschiffung und Ausfahrt „sächsischer Chinakrieger“ auf dem Dampfer Straßburg. Der Streifen, dreieinhalb Minuten lang, zeigt zunächst in zwei totalen bzw. halbnahen Einstellungen, wie Soldaten in langen Reihen vom Kai über die Gangway das Schiff betreten. Die Kamera behält hier eine starre Position. In einer dritten Einstellung erfasst Seeber das Deck des Schiffs und lässt seine Kamera in mehreren ruckartigen Bewegungen über das Treiben an Bord, die Aufbauten und ein Rettungsboot bis zum Heck ‚wandern’. Auch das Heck schwindet aus dem Bild, man sieht eine Mole mit Leuchtturm, die Kamera ‚wandert’ weiter und erreicht schließlich das offene Meer: Sie zeigt die Richtung an, in die der Truppentransporter aufbrechen wird. Seebers Kamera hat noch keinen Schwenkkopf, wie er bald in Gebrauch kommen wird. Doch die ruckartigen, noch unbeholfen wirkenden, doch genau berechneten Kamerabewegungen verbinden sich bereits zu einem Panoramablick; jede Bewegung weitet das Sichtfeld aus, weist auf ein ‚Jenseits’, auf die Entgrenzung des Blicks durch Wasser, Himmel und fernen Horizont. Am Ende steht eine Einstellung, die den auslaufenden Dampfer zeigt, einen beflaggten Koloss mit winkenden Soldaten; er zieht langsam vor starrer Kamera vorbei und verschwindet aus dem Bild.

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Wo endet die simple filmische ‚Ansicht’, wo beginnt eine mit filmischen Mitteln erzählte ‚Geschichte’? Anders gefragt: steckt nicht schon im one-shot-take, in der einzelnen tableauartigen Kameraeinstellung die Keimzelle einer ‚Handlung’, die nach weiterer Entfaltung drängt? Eine mögliche Antwort liegt im Phänomen der kinematografischen Bewegung und in der filmisch erzeugten Illusion der Bildtiefe und des Raums. Eadweard Muybridges Serienfotografien kennen noch keine Räumlichkeit; die von ihm aufgenommenen Tiere und Menschen bewegen sich meist horizontal, wie animierte Skulpturen vor neutralem Hintergrund. In der Filmaufnahme hingegen finden die Figuren ein mit szenischen Mitteln fingiertes oder real aufgenommenes ‚Umfeld’ (einen Innenraum, eine phantastische oder tatsächlich existierende Außenszenerie); die Bewegung kann sich horizontal, aber auch diagonal oder in eine imaginäre Raumtiefe hinein entfalten. Die filmischen Ansichten sind durch den Bildkader begrenzt, durch den Realitätsausschnitt, den die Kamera von einer festen Position aus aufnimmt und in der einzelnen Einstellung (noch) nicht verändert. Doch die Grenzen des Bildrahmens scheinen durchlässig. Als Kinozuschauer lernen wir, das, was sich ‚jenseits der Leinwand’ befindet, in unsere Wahrnehmung mit einzubeziehen; wir ‚errechnen’ das räumliche Umfeld und komplettieren so die filmische Illusion.

Filmbilder sind, in weitaus stärkerem Maß als Fotografien, ‚welthaltig’ und verheißungsvoll: schon die nächste Einstellung kann uns aus einem Zimmer in einen Nebenraum, von innen nach außen, in ein anderes Land oder eine andere Zeit entführen. Zwar wissen wir dies erst seit Erfindung der Montage, doch liegt bereits in der einzelnen Einstellung das Versprechen eines ‚Darüberhinaus’. Warum sollte ein single shot-Film nicht ‚weitergehen’ – schafft doch die fließende filmische Bewegung ein Fluidum, in dem eine ‚Ansicht’ der anderen folgen, die Bewegung der Figuren in eine Handlung münden und sich vielleicht eine Geschichte ergeben könnte.

Exemplarisch führt diesen imaginären flow der einminütige Film Come along, Do! des Briten Robert William Paul von 1898 vor Augen: Ein älteres, bäuerlich wirkendes Paar sitzt auf einer Bank vor einem Kunstsalon und verzehrt behaglich sein Frühstück; auf der Wand hinter ihm weist ein Pfeil rechts zu den „Refreshments“, links zur „Art Section“. Zwei Frauen kommen vorbei und betreten durch eine Tür links (die im Anschnitt zu sehen ist) die Kunstabteilung. Darauf erhebt sich das Paar von der Bank und folgt den Frauen in die Ausstellung. An dieser Stelle bricht die erhaltene Kopie ab – die zweite Einstellung ist verloren gegangen. Aus Standfotos, die überliefert sind, lässt sich die Fortsetzung rekonstruieren: in der Ausstellung ist der Mann in den Anblick einer nackten weiblichen Skulptur versunken, seine Frau versucht, ihn fortzuziehen.

Come along, Do! ist nicht mehr als ein Sketch, eine Geschichte en miniature, für die Paul erstmals zwei Schauplätze und zwei Kameraeinstellungen verwendet; verbunden werden sie durch die Bewegung der Personen, die sich in den Ausstellungsraum begeben. Im ersten Bild werden die Akteure vorgestellt, im zweiten treten sie in Aktion. Die verlorene zweite Einstellung ist ein ‚blinder Fleck’, der um so deutlicher die erste, erhaltene als eine filmische Konstruktion ausweist. Die Pfeile an der Wand zeigen seitlich jeweils in die Richtung einer angrenzenden Räumlichkeit, und die Bewegung der handelnden Personen führt durch die Tür in eine imaginäre Bildtiefe, die der Zuschauer mit dem Raum der Kunstausstellung identifiziert. Das erhaltene Fragment sieht somit aus wie ein single shot-Streifen, der die Erwartung auf einen Ort außerhalb des Bildes und ‚jenseits der Leinwand’ orientiert: auf eine Geschichte, die ‚weitergeht’.

G.A. Smiths As Seen Through a Telescope (1900, mit einer voyeuristischen Großaufnahme von einem weiblichen Fußgelenk) oder Porters The Gay Shoe Clerk (1903) enthalten kleine, (noch) kryptische Geschichten, die sich über männlichen Sexismus oder gouvernantenhafte Prüderie amüsieren. The Gay Shoe Clerk demonstriert, wie ein charmanter Schuhverkäufer einer hübschen Dame hingebungsvoll einen Schuh anpasst; unzweideutig entblößt die Dame, in einer Detailansicht, dabei ihre Wade, im Handumdrehen kommt es zu einem leidenschaftlichen Kuss. Die kratzbürstige Begleiterin beendet die amouröse Szene abrupt unter Zuhilfenahme ihres Regenschirms. The Gay Shoe Clerk bietet, mit der ‚Ansicht’ der weiblichen Wade, gewiss eine ‚Attraktion’; die Großaufnahme ist in diesem Fall keine klassische point of view-Einstellung, sondern folgt noch der Logik einer demonstratio ad oculos.30 Die close up-Aufnahme der Wade, so Tom Gunning, sei weniger „Vehikel“ einer Geschichte, vielmehr „key moment“, „central attraction“ des Films.31 Doch der Film als Ganzes ist mit den Kriterien des cinema of attractions allein nicht zu erklären. Die Blicke der Darsteller sind nicht (mehr) ins Kameraobjektiv gerichtet, sondern in eine Aktion involviert, die auch den individuellen Blick des Zuschauers einbindet – der will ja wissen, was ‚passiert’ und welche Konsequenzen die ‚Geschichte’ hat.

Die ‚Geschichte’ ist nicht viel mehr als ein ‚frivoler’ Scherzartikel, die wohl populärste Ware der frühen Kinematografie, im dramaturgischen Sinne jedoch ein Sketch, der als solcher einen Handlungsablauf und eine Pointe vorzuweisen hat. Handlung und Pointe bilden ein narratives Moment, das hypothetisch auf eine Vor- oder Nachgeschichte der gezeigten Szene deutet. Über sie erfährt der Zuschauer nichts, aber es hindert ihn auch nichts, seine Phantasie auf ihre Spur zu setzen. Sehr genau lassen sich auch an den burlesk-‚exhibitionistischen’, den männlichen Blick provozierenden und gleichzeitig ironisierenden Sujets, die um 1900 in Europa wie in den USA äußerst populär sind, Übergänge zeigen, Ansätze zu Handlungen und Momente einer frühen Narration. Airy Fairy Lillian Tries on Her New Corsets  (American Mutoscope & Biograph, 1905) etwa zeigt nicht nur die Probleme einer beleibten Tänzerin mit ihrer Korsage, der Film gibt auch einen Mann, der sich allzu beflissen an ihrem Mieder zu schaffen macht, dem Gelächter preis.

Offenbar ist das frühe Attraktionskino schon in seiner Konstruktion ambivalent. In vielen staunenswerten ‚Ansichten’ ist in nuce eine Geschichte verborgen. Umgekehrt setzen sich die ersten längeren ‚Spielfilme’ von Georges Méliès aus Elementen des Theaters, des Varietés, kurzum: aus der Kulissenwelt des Attraktionskinos zusammen. Le voyage dans la lune (1902) etwa ist eine artifizielle Konstruktion aus Trick- und Realfilm, gebauten Kulissen und gemalten Prospekten, bizarren Kostümen und romantisch-phantastischen Requisiten. Es überwiegen totale Einstellungen, so dass man eine Abfolge von Bühnenbildern zu sehen meint – eine Abfolge, die allerdings einer sequentiellen Logik, der Logik einer filmisch erzählten Geschichte unterliegt. Performative Artifizialität und narrative Struktur schließen einander nicht aus. Méliès erzählt, und was er uns zu erzählen hat, ist eine höchst abenteuerliche Geschichte von einer Reise zum Mond und darüber, was den Reisenden auf dem Mond widerfährt. Unterschiedliche, auch gegensätzliche Konzepte kinematografischer Gestaltung und filmischer Wahrnehmung existieren nebeneinander: eben dies macht den besonderen Charme der Filme von Méliès und vieler anderer Pioniere des frühen Kinos aus.

Filmverzeichnis

Airy Fairy Lillian Tries on Her New Corsets, USA 1905

L’Arrivée d’un train en gare à La Ciotat, Frankreich 1895, Regie: Auguste und Louis Lumière

Ausfahrt der sächsischen Chinakrieger mit dem Dampfer Straßburg am 31. Juli 1900, Deutschland 1900, Regie: Guido Seeber

As Seen Through a Telescope, Großbritannien 1900, Regie: George A. Smith

Black Diamond Express, USA 1896, Regie: William Heise

Come along, Do!, Großbritannien 1898, Regie: Robert William Paul

The Gay Shoe Clerk, Edwin S. Porter, USA 1903

The Great Train Robbery, Edwin S. Porter, USA 1903

The Kiss in the Tunnel, George A. Smith, Großbritannien 1899

Le voyage dans la lune, Frankreich 1902, Regie: Georges Méliès

Literaturverzeichnis

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Anmerkungen

1 Der Text basiert auf Überlegungen, die der Autor umfassend in seinem Buch Traum und Exzess. Die Kulturgeschichte des frühen Kinos, Wien: Zsolnay 2011 entwickelt hat. Erstveröffentlichung in: Heinz-Peter Preußer (Hrg.): Anschauen und Vorstellen. Gelenkte Imagination im Kino. Marburg (Schüren) 2014, S. 33-51.

2 Kracauer, S. 57.

3 Méliès, S. 25.

4 Gunning 1990, S. 57.

5 Burch, S. 220 ff.

6 Bordwell 1997, S. 127. Hervorhebung im Original.

7 Deleuze, S. 55 f.

8 Kittler 1986, S. 240.

9 Münsterberg, S. 59.

10 Crary, S. 30.

11 Use of educational films. In: Kinematograph and Lantern Weekly, 31.8.1911. Zit. nach Bottomore, S. 82.

12 Elsaesser: Kino der Kaiserzeit, S. 17.

13 Jost, S. 44.

14 Jost, S. 44.

15 Jost, S. 36 und S. 40.

16 L’Illustration, 28.3.1908. Hier zit. nach Jost, S. 36. (Hervorhebg. im Original)

17 Bordwell 2001, S. 11 und 13.

18 Kittler 1985.

19 Thiessen, S. 190.

20 Simmel, S. 11

21 Münsterberg, S. 54.

22 Schweinitz, S. 427.

23 Vgl. Köppen, S. 75.

24 Rosa, S. 165.

25 Münsterberg, S. 49.

26 Münsterberg S. 59.

27 Münsterberg S. 84 (im Original kursiv).

28 Schivelbusch, S. 16.

29 Musser, S. 260 f.

30 Elsaesser: Filmgeschichte und frühes Kino, S. 78.

31 Gunning 2009, S. 119.