Blicke im Kino – Blicke im Film

Anmerkungen zu Griffiths frühen Biograph-Filmen

Von Klaus Kreimeier

(Erstveröffentlichung in: Christian Dewald, Petra Löffler, Marc Ries (Hg.): Kino Arbeit Liebe. Hommage an Elisabeth Büttner. Berlin 2018, S. 113-127)

In den Jahren 1908 bis 1914 hat David Wark Griffith für die American Biograph Co. einige hundert Kurzfilme (One– und Two-reelers bis ca. 20 Minuten Länge) inszeniert, in denen er die narrativen Techniken und dramaturgischen Verfahrensweisen seiner großen Filmepen entwickeln und ihre vielfältigen Varianten ausprobieren konnte. Das Wissen, das er sich in dieser Phase aneignete, war nicht nur für seine persönliche künstlerische Entwicklung, sondern auch für die Etablierung der Kinematografie als eines modernen Massenmediums von immenser Bedeutung. Mit seinen „Großfilmen“ Birth of a Nation und Intolerance  (1914/15) legte Griffith – als sein eigener Produzent der erste große Independent des amerikanischen Kinos – wichtige Grundlagen für die Entwicklung zum „klassischen Hollywood“ der kommenden Jahrzehnte und zum internationalen Erzählkino.

In den USA wie in Europa standen die Produzenten und Regisseure in diesen Jahren vor der Aufgabe, sich von den Attraktionsspektakeln des Jahrmarktkinos abzusetzen und mit komplizierteren, „literarischen“ Sujets auch die gebildeten Mittelschichten für das Kino zu gewinnen. Es ging darum, Geschichten für gehobene Ansprüche zu erzählen und adäquate filmsprachliche Formen zu finden, die es ermöglichten, den Erzählstoff raumzeitlich zu strukturieren, die Akteure sozial zuzuordnen und psychologisch plausibel zu charakterisieren. Auf der Ebene der Handlung galt es, das Beziehungsgeflecht zwischen den Figuren transparent zu machen und  suspense-Effekte aus der Logik des Geschehens zu entwickeln, um eine entsprechende emotionale Anteilnahme im Publikum zu erreichen.

Extensionen

Griffiths frühe Biograph shorts haben an der Lösung dieser Probleme einen wesentlichen Anteil. Die meisten der ihm zugeschriebenen narrations- oder kameratechnischen „Erfindungen“ wurden zwar schon vor ihm erprobt (in den USA etwa von Edisons Mitarbeiter Edwin S. Porter) – Griffith jedoch hat sie in ein kohärentes ästhetisches Konzept integriert und sie im Sinne einer komplexen Erzählstrategie systematisch weiterentwickelt. Ihm war von Beginn an bewusst, mit einem Medium zu arbeiten, das kraft seiner technischen Innovationen die Extension unserer Wahrnehmung befördert – in einer von der industriellen Revolution geformten Umwelt, in der innerhalb weniger Jahre neue Fortbewegungs- und Kommunikationsmittel die Erfahrung von Raum und Zeit veränderten.

Schon in seinen kurzen Filmen „erforscht“ Griffith sein Instrumentarium in dem Maße, wie er das Geschehen vor seiner Kamera beobachtet, es in seinen einzelnen Phasen zu durchdringen sucht. Eine Straßenszene kann von mehreren unterschiedlichen Standpunkten aus gesehen werden; sie verändert sich nach Maßgabe des jeweiligen Blickwinkels und der Dynamik der jeweiligen Situation. In der filmischen Inszenierung können Aufnahmetechnik und Montage darauf reagieren. Sie sind die adäquaten Repräsentationsformen einer in Bewegung geratenen Wirklichkeit und ermöglichen es zugleich, ein Geschehen in seine kleinsten Einheiten zu zerlegen, seine Mikrostrukturen zu studieren. Ebenso bieten sie sich dafür an, die Gleichzeitigkeit mehrer Handlungabläufe an verschiedenen Orten nach der Logik der Handlung zu gestalten und ihre Parallelität sinnfällig zu machen. Griffith hat nicht die Parallelmontage „erfunden“ – aber er hat ihr eine Geschmeidigkeit, eine erzählerische Qualität verliehen, die das System der Kontinuität und der Verschränkung divergierender Handlungsabläufe im Kino vorangebracht und den feature film, den langen Spielfilm erst ermöglicht haben.  

In The Lonedale Operator (1911) etwa wird auf dem Höhepunkt einer spannenden Handlung mit der Parallelführung von drei Aktionssträngen die Schnittfrequenz schneller; die Kamera zeigt in nahen und halbnahen Aufnahmen Details des Geschehens, so dass Beschleunigung und Focussierung ineinander greifen bis zu jenem Punkt, in dem die drei Stränge zusammengeführt und die Spannung aufgelöst werden kann. Parallel zur Handlungsachse verlaufende Kamerafahrten (parallel trackings) erhöhen, wie in in The Girl and Her Trust (1912), das „gefühlte“ Tempo einer Verfolgungsjagd. Überblendungen verbinden unterschiedliche Schauplätze; Kameraschwenks und Travelings lenken die Aufmerksamkeit auf eine Person, ein Objekt oder ein anderes wesentliches Element der Handlung; bildfüllende close-ups eines Gesichts signalisieren eine Emotion, langsame Abblenden (fade-outs) lassen die Spannung, den Tumult der Gefühle ausklingen.

Während in den meist circensischen Darbietungen des Attraktionskinos der Blick der Akteure (Clowns, Akrobaten, Zauberer etc.) oft das Kameraobjektiv sucht, um die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf direktem Weg zu erzwingen, würde sich eben diese Blickachse auf die Fiktionalität einer realistischen Repräsentation wie im Spielfilm nachgerade zerstörerisch auswirken und gilt entsprechend als Tabu. Griffith mobilisiert die Aufmerksamkeit seines Publikums durch die Umkehrung dieses Gesetzes – und schafft so eine weitere Grundbedingung filmischer Fiktion: Er bezieht den Zuschauerblick in die spezifische Konstruktion seiner Erzählung ein, indem er die Aufmerksamkeit eines Akteurs für ein Objekt, ein bestimmtes Detail szenisch akzentuiert und so auch die des Betrachters aktiviert. Klassische Beispiele sind jene Großaufnahmen, die der Regisseur häufig überraschend einsetzt – entweder um die Spannung zu erhöhen, oder um sie aufzulösen, indem er Aufklärung herstellt. In An Unseen Enemy (1912) schiebt sich langsam, groß aufgenommen, eine Pistole durch eine Türöffnung und richtet sich zuerst frontal in den Zuschauerraum, der auf diese Weise imaginär in das Bedrohungsszenar einbezogen wird, dann auf  die im Raum befindlichen Personen (zwei Schwestern, gespielt von Lillian und Dorothy Gish). Umgekehrt The Lonedale Operator: Mit einer Pistole, so scheint es jedenfalls, hält hier eine junge Frau (Blanche Sweet) zwei Räuber in Schach, bis die Retter eintreffen – erst das einzige close-up, am Ende des Films, enthüllt für Freund und Feind wie auch dem Auge des Zuschauers im Kino, dass sie die Schusswaffe nur vorgetäuscht hat.

Eine genauere Analyse dieser Sequenz zeigt, dass Griffith hier ein raffiniertes Spiel aus Augen-Blicken und Augentäuschung aufbaut, das durch das Handeln „im richtigen Augenblick“ gekrönt wird. Während im Vorraum die beiden Gangster im Begriff sind, die trennende Tür einzuschlagen, sucht Blanche Sweet verzweifelt nach einem Objekt, mit dem sie sich zur Wehr setzen könnte. Ihr Blick irrt durch den Raum, auf dem Schreibtisch entdeckt sie einen Gegenstand, den der Zuschauer in der totalen Einstellung nicht identifizieren kann. Sie richtet ihn gegen die Tür, und jetzt kann der Zuschauer vermuten: es könnte eine Pistole sein. Noch einmal blickt sie auf den Schreibtisch und schaltet eine dort stehende Lampe aus. Die Szene ist jetzt verändert: Das Halbdunkel täuscht die Wahrnehmung der nun eindringenden Räuber wie auch die des Zuschauers. Die Einbrecher heben die Hände hoch, fast gleichzeitig treffen die bewaffneten Befreier ein. Sie nehmen die Bösewichte fest, im wieder hell erleuchteten Raum präsentiert Blanche Sweet den Männern ihre „Waffe“ – doch erst in der folgenden Großaufnahme erkennen auch wir: die „Waffe“ ist ein gewöhnlicher Messchieber, wie er in vielen Werkstätten in Gebrauch ist. In der anschließenden Totale blicken wir in vier überraschte Augenpaare.

Es geht, wie so oft bei Griffith, um das Sehen – und um die Sichtverhältnisse, die das Sehen ermöglichen oder erschweren; es geht um Blicke und darum, wie sich aus Blickrichtungen Handlungen und Reaktionen aufbauen. Es geht, in einem Wort, um Wahrnehmung: um die der Akteure im diegetischen Kontext der filmischen Erzählung ebenso wie die der Zuschauer im Kino. Mit ihr rückt das Phänomen der Aufmerksamkeit ins Zentrum – und die Frage, wie sie über das Wahrgenommene gesteuert, mobilisiert, getäuscht oder überrumpelt werden kann. Es handelt sich um Mikroelemente der filmischen mise-en scène, an denen sich zeigen lässt, wie jene osmotische Immersion des Betrachters, seine sanfte Überwältigung durch die kinematografische Zeichenwelt im Kino funktioniert. Jacques Aumont spricht im Zusammenhang mit Griffiths close-ups von interpellation, einem Vorgang also, der – in diesem Sinne durchaus vergleichbar mit dem direkten Blick in die Kamera im Attraktionskino – eine Grenzüberschreitung impliziert, einen Angriff auf die intime Anonymität der Zuschauerposition: „This interpellation of course takes on the most diverse forms – we are simply looked at by the photograph of Lionel Barrymoore, itself contemplated by Mary Pickford in Friends; one is stared at by the famous revolver of An Unseen Enemy which, having hesitated for a long time, suddenly turns its black and threatening muzzle towards us; we are transfixed by the slow and continuous advance, into a big close-up, of the face of the ‘Musketeer’ of Pig Alley, which invades, now horribly ugly, the whole height of the screen.“[i]

Fixierungen

Es lohnt sich, diese von Aumont genannten Beispiele genauer zu betrachten. In Friends vernetzt Griffth in der erwähnten Szene die drei Hauptfiguren – dargestellt von Mary Pickford, Lionel Barrymore und Henry B. Walthall – über das Spiel der Blicke subtil zu einem fragilen erotischen Dreieck. Kaum hat sich Barrymore von seiner Geliebten verabschiedet, sinkt sie seinem Rivalen Walthall in die Arme. Während sie ihr Gesicht an seine Schulter schmiegt, ihn küsst und umschmeichelt, fällt Walthalls Blick auf eine Fotografie. Aus der Umarmung heraus greift er nach dem Bild, das er unverwandt anblickt. Schnitt auf das close-up der Fotografie: Sie zeigt das Antlitz Barrymores, seines Konkurrenten. Nun ist es dieser, der auch uns, die Zuschauer (aus dem fotografischen Konterfei) anstarrt – „der Andere“, der noch kurz zuvor im selben Raum war und dessen Anwesenheit als Abbild in diesem Augenblick die leibhaftige Präsenz der beiden anderen überstrahlt. Walthalls verlangsamte Bewegung, sein  Blick auf das Porträt des Rivalen, schließlich die Fotografie selbst verleihen der Szene, trotz der Schnitte, die Anmutung eines lebendenden Bildes. In der nächsten Einstellung starrt auch Mary Pickford auf das Bild des Geliebten – und wendet ihren Kopf ab, als halte sie seinem Blick nicht stand. Ähnlich fixiert die Revolvermündung in An Unseen Enemy die Blickrichtung der beiden Schwestern und stellt gleichzeitig die Szene still: zu einem lebenden Bild der Angst. Ein ungleiches Duell zwischen Waffe und Auge.

Griffiths Kurzfilme stehen somit am Anfang eines psychologischen Kinos, das der Genese von Gefühlen Raum gibt und beobachtet, wie sich die Menschen ihrer Macht ausliefern. The Mothering Heart (1913) etwa analysiert Szenen einer Ehe: ein Eifersuchtsdrama, das sich am Tisch eines Ballsaals in einem feingezeichneten Spiel der Blicke zwischen Walter Miller, Lillian Gish und Kate Bruce entwickelt – und sich, ein für Griffith typischer Doppelungs- und Spiegelungseffekt, im selben Saal und am selben Tisch wiederholt, wenn sich Miller seinerseits eines Rivalen (Charles West) zu erwehren hat. Aus leicht erhöhter Sicht, in medium close-ups, belauert Billy Bitzers Kamera die Gesichter und die provozierenden Manöver der Blicke.

Eine virtuos aus dem szenischen Kontext entwickelte Großaufnahme findet sich in The Musketeers of Pig Alley (1912). Gangsterkrieg in einem der jüdischen Ghettos von New York City – zwei gefürchtete Banden tragen ihre Konflikte im tristen Milieu enger Gassen und verkommener Hinterhöfe aus. Snapper Kid, der Anführer der einen (Elmer Booth), schleicht sich im Hintergrund mit zwei Spießgesellen lauernd ins Bild und schiebt sich, an eine Brandmauer gepresst, auf die Kamera zu, verschwindet hinter einem Mauervorsprung, schleicht weiter, bis sein Gesicht die rechte Bildhälfte ausfüllt – kein klassisches close-up, aber, mit dem Kopf des Kumpanen hinter ihm und der unscharfen Backsteinmauer im Hintergrund, eine Bildkomposition, die zu dieser Zeit singulär gewesen sein dürfte. Bereits 1908, in Money Mad, hat Griffith diese szenische Konstellation in Ansätzen erprobt: die „schleichende“ Annäherung des Bösewichts an die Kamera, verbunden mit der Körperlichkeit des lauernden, auf ein bestimmtes Ziel fixierten Blicks. „Indeed, the impact of these shots is downright creepy, as these repellent brutes keep coming ever nearer to invade our space.“ (Peter Gutmann[ii]) Anders als den meisten seiner zeitgenössischen amerikanischen Kollegen – darauf weist Stephen Higgins hin – geht es Griffith dabei nicht um spekulativ-melodramatische Milieuzeichnung oder eine standardisierte Form psychologischer Charakterisierung, sondern um das „Systemische“ sozialer Misstände: „(…) Griffith sought to advance a markedly progressive agenda through these films, one that used melodrama to critique the systemic corruption and vice found in the inner city.“[iii]

Griffiths Denken, seine Haltung zu den großen sozialen und politischen Fragen seiner Epoche wurzeln tief im viktorianischen 19. Jahrhundert. Eine andere Welt als die der bürgerlichen Ordnung mit ihren strengen Hierarchien, in der Gut und Böse scharf konturiert sind,  kann er sich schwerlich vorstellen.  Als Moralist will er ein ebenso realistisches wie optimistisches Gemälde des modernen Kapitalismus malen: Räuberische und destruktive Triebe streben rabiat nach Macht, aber die positiven Anlagen des Menschen und der gesellschaftliche Fortschritt, dies ist Griffiths feste Überzeugung, werden den Sieg davontragen. In diesen Rahmen ordnet sich auch sein ausgeprägtes Gefühl für soziale Gerechtigkeit ein, seine Empathie für die Zukurzgekommenen, die Mühseligen und Beladenen. Die Typisierung in seinen Filmen dient der Verdeutlichung seiner Sicht auf die Welt, der er eine unmissverständliche (durchaus auch mit Stereoptypen operierende) Form zu geben sucht. Es geht ihm um künstlerische Verdichtung; sein Bemühen gilt, wie André Gaudreault und Tom Gunning festgestellt haben, der Verbindung von „social commentary and poetic form“[iv], der Stellungnahme zu gesellschaftlichen Fragen in einer (film-)poetischen Sprache.

A Corner in Wheat, ein Film vor dem Hintergrund der Hungerkrise im amerikanischen Mittelwesten um 1890[v],  ist unter den erhaltenen Biograph Shorts vielleicht das überzeugendste Beispiel für Griffiths Fähigkeit der Verdichtung und Strukturierung eines sozialen Befunds. Am Anfang stehen Blicke, die die Zeit anzuhalten scheinen, schon die erste Einstellung zeigt einen emblematic shot. Der Hof eines armen Bauern, drei Menschen stehen im Bildvordergrund. Der Bauer, gebückt über einen Sack mit Saatweizen, lässt das Getreide durch seine Hände rinnen; seine Frau und seine kleine Tochter beobachten ihn, bis er nach vorn aus dem Bild geht. Mutter und Tochter blicken ihm in unveränderter Haltung nach.  Eine andere Szene: Beim Bäcker hat sich eine Schlange verzweifelter Kunden gebildet, für die das Brot unerschwinglich geworden ist. Sie starren auf ein großes Schild vor der Brottheke, das die Preiserhöhung ankündigt; im diegetischen Sinne bildet dieses Schild das Zentrum des Bildes. Ein Bild des „Innewerdens“, das den Blick des Zuschauers gleichsam in Haft nimmt, die filmische Bewegung stillzustellen scheint und die Argumentationskraft des Films wie in einem Brennpunkt zusammenzieht: „(…) as a mode of contemplation, of economic and cultural reflection.“[vi]  Oft reagiert der erstarrte Blick auf eine Krisensituation, signalisiert er Tod oder tödliche Gefahr  (wie in An Unseen Enemy), oder er erwartet ein drohendes Verhängnis. Er spiegelt Angst oder Entsetzen, kündet von Hilf- und Wehrlosigkeit in einer scheinbar aussichtslosen Lage – zugleich konzentrieren sich in ihm Widerstandsenergien, um die Bedrohung zu bannen. Fixierung und stillgestellte Zeit enthalten somit einen Doppelsinn, einen unaufgelösten Widerspruch, der das (scheinbar stehende) Bild im Kontext der „fließenden Zeit“ im Bewegtbildmedium mit emblematischer Kraft ausstattet.

Vielleicht liegt hier eine Erklärung dafür, dass etliche Filme aus Griffiths Frühwerk mit einer Ikone des Todes beginnen. In Romance of a Jewess (1908), The Song of the Shirt (1908) und A Child of the Ghetto (1910) stehen junge Frauen am Sterbebett ihrer Mutter: verwaiste und im existentiellen Sinne verlassene Wesen, die sich nun allein einem gefahrvollen Leben mit seinen sozialen Härten ausgesetzt sehen. Auch im Blick auf einen sterbenden Menschen scheint die Zeit anzuhalten, als walte zwischen den Lebenden und den Toten eine hypnotische Beziehung, die nicht allein in der je psychischen oder sozialen Konstellation begründet ist.  In The New York Hat (1912) wird der hypnotische Blick einer Sterbenden regelrecht zelebriert. In der ersten Einstellung blicken wir in die weit geöffneten Augen einer Todkranken, über die sich der Pfarrer beugt; sie flüstert ihm etwas ins Ohr, er blickt daraufhin zur Tochter. Dann neigt sich der Arzt über die Sterbende, sein Rücken verdeckt jetzt die Sicht auf die Szene, bis er sich aufrichtet und, unter den starren Blicken der Anwesenden, der Toten langsam die Augen schließt. The Song of the Shirt ist, von der ersten bis zur letzten Einstellung, ein Film über das Sterben. Der (Kamera-)Blick auf das Bett mit der kranken Mutter wandert als Leitmotiv durch den Film, der vom vergeblichen Kampf der Tochter handelt, als Näherin das notwendige Geld für Medikamente zu beschaffen. Das letzte Bild mit der Toten hinterlässt im Zuschauer, wie Peter Gutmann auf seiner Griffith-Website schreibt, ein Gefühl betäubter Leere: „Indeed, the end is so powerful for the very reason that, in lieu of the expected denouement of showing the girl entering the bedroom and collapsing in hysterics and grief, Griffith leaves us with a feeling of numb emptiness. By forcing us to imagine her fate, he creates a far more potent impact than any actual depiction could ever attain.“[vii]

Emphasen

Wir finden in Griffiths Filmen immer wieder eine Wendung aus dem physischen Geschehen in die Sphäre der psychischen Reflexion. Ein Beispiel ist der nach innen versunkene Blick des reichen Geschäftsmanns in One is Business, the Other Crime (1912), wenn er sich seiner Schurkereien bewusst wird – ein Spiegel des jähen Innewerdens, des Zweifels und des moralischen Konflikts. Es gibt den nachdenklich-missbilligenden Blick Blanche Sweets in The Painted Lady (1912), wenn sie sich die Make-up-Utensilien ihrer eitlen Schwester betrachtet – und den lauschenden Blick Dorothy Bernards in The Girl and Her Trust, als sich zwei Verbrecher ihrem Haus genähert haben und sie hinter ihrem Rücken durch das Fernster beobachten. Die Unruhe, die Angst in ihren Augen signalisieren eine Gefahr, die sie hören, aber (anders als der Zuschauer) noch nicht sehen kann: eine Visualisierung des Auditiven, die sich hier als eine spezifische Qualität des stummen Films bewährt.  Wir finden schließlich das Phänomen des antizipierenden, dem Schicksal vorauseilenden Blicks wie in der nicht enden wollenden Abschiedszene der Tennyson-Verfilmung Enoch Arden (1911) und, im selben Film, jene imaginären Blicke, die sich zwischen den getrennten Liebenden, getragen von der Montagestrategie des Regisseurs, über Kontinente und Ozeane hinweg kreuzen. Gewiss: Es ist die brennende Sehnsucht, mit der Linda Arvidson als Annie Lee das Meer nach ihrem verschollenen Geliebten absucht. Doch ins Metaphorische überhöht, scheint Griffith eine göttliche Fügung zu suggerieren, wenn er mit Hilfe der Montage die Blicke der beiden sich über alle Entfernungen begegnen lässt.

In der Tat: In Griffiths Blickstrategien waltet eine Emphase, die ans Religiöse rührt. Wie einer himmlischen Erscheinung streckt Barry O’Moore als Edgar Allan Poe im gleichnamigen Film seine Arme dem Licht entgegen, das durch ein kleines Fenster in seine düstere Mansarde, auf sein Bett und seine sterbende Braut fällt. In der Dynamik von Geste und Blick entfaltet sich die ganze Dramatik der Situation einer Grenzsituation, die extreme performative Mittel erzwingt. Die Emotionen scheinen sich abrupt zu entladen, weil sich ihre Genese in einem fünfzehnminütigen short movie, anders als im feature film des klassischen Kinos, nicht über epische Längen allmählich entwickeln kann ebenso wenig wie sich die Charaktere und ihre Konflikte in Haupt- und Nebenhandlungen herauskristallisieren, ihre Ambivalenzen diskursiv aushandeln können. In so vielen Melodramen des frühen Kinos, so scheint es uns, knistert in jeder Kameraeinstellung das Schicksal, geht es um Tod oder Erlösung gleichsam  auf engstem Raum. Dies hat gravierende Auswirkungen auf Dramaturgie und Dekor und verstärkt die raumzeitliche Konzentration der Handlungsführung und die Struktur der Aktion auf das jeweilige Umfeld. Raum und Repräsentation   oder: das Drama der Welt und die Gefühle der ihm Ausgelieferten erscheinen beim frühen Griffith, in den Zangen seiner enggeführten Dramaturgie, aufs das Äußerste zusammengedrängt: auf den ekstatischen Moment und die Ekstase der Blicke. Mit Recht schlägt Jacques Aumont den Begriff der figurative closure vor; es gebe bei Griffith eine Priorität des Sets, des Dekors, der mise-en-scène gegenüber dem Charakter[viii] – die Menschen seien Gefangene des sie umgebenden Raums, letztlich des Bildkaders und seiner hermetischen Abgrenzungen, die kein Außen, kein Jenseits des Bildes kennen.

In einigen Filmen gewinnt dieses Prinzip anschaulich-körperliche Gestalt. Extrem etwa in The Sealed Room (1909): Hier rächt sich ein grausamer Renaissancefürst an seiner Mätresse, indem er sie und ihren Geliebten in ein Verlies wirft, sie einmauern und verhungern lässt. In The House with Closed Shutters (1910) sperrt  in den Jahren des amerikanischen Bürgerkriegs eine Mutter (Grace Henderson) ihren aus der Armee der Konföderierten desertierten Sohn (Henry B. Walthall) aus Scham im Haus ein – als lebenslang Gefangenen, dessen „Schande“ vor der Öffentlichkeit, sogar vor Verwandten und Freunden verborgen werden muss. Am Ende schließt sie auch die Fensterläden: Das Haus ist nicht nur dem Sohn, sondern auch ihr selbst zum Gefängnis geworden, zu einem Kerker, in dem der Wahn regiert – der fanatische Patriotismus von Mutter und Tochter und ihr emphatischer Blick auf die Flagge der Konföderierten, die im letzten Bild den Körper des sterbenden Walthall verhüllt. Noch im Tod wird sein Anblick den Freunden verwehrt.

Ein sehr komplexer Fall ist The Usurer (1910). Der establishing shot zeigt das Büro eines Geldverleihers (George Nichols), der zwei seiner Schergen beauftragt, die Schulden bei den Armen einzutreiben. Er händigt ihnen die Schuldscheine aus und verlässt den Raum. Damit wird der Blick (der beiden Untergebenen wie des Zuschauers) auf die gepanzerte Tresortür frei, die einen großen Teil der rechten Bildhälfte einnimmt. Bewegungslos starren die beiden einige lange Sekunden auf den Tresor. Was hat dieser Blick zu bedeuten? Der weitere Verlauf enthüllt seine antizipierende und den ganzen Film strukturierende Funktion. Er gleicht jenen dead ends, jenen Blicken ins Nichts, die David Bordwell[ix]  in Griffiths Filmen festgestellt hat und die solche Kritiker irritieren, die Griffiths Anfänge vorwiegend aus der Perspektive der Evolution des klassischen narrativen Kinos bewerten. Dann wäre die verschlossene Tresortür eine Art Sackgasse des Blicks, eine Stillstellung der figurative closure im Sinne Aumonts. Es zeigt sich jedoch: Dieser Blick hat, über seine antizipierende Funktion hinaus, eine metaphorische Konnotation und einen emblematischen Stellenwert im Inneren der Erzählung. Er gilt auch den Reichtümern, die der Geldverleiher in seinem Tresor verschwinden lässt. Die Bildkomposition der enge Raum, die gepanzerte Tür, der lange stumme Blick der Angestellten ist mit einer Bedeutung aufgeladen, die sich dem Zuschauer  erschließt, sobald der Wucherer zurückkehrt, um den Schmuck seiner Schwester im Safe aufzubewahren. Er öffnet die Tür und betritt den Tresorraum; eine Parallelmontage setzt nun beide Räume zueinander in Beziehung. Ein Zufall bewirkt, dass der Wucherer im engen Tresorraum eingeschlossen wird und – umgeben von unzähligen Geheimfächern mit Schmuck und Wertpapieren, zu denen er allein Zugang hat – nach einem qualvollen Todeskampf erstickt. Bildstrategisch operiert Griffith mit einem Doppelraum, in dem die räumliche Enge des Büros zum Inneren des Tresors schrumpft: Es ist der eigene Geldschrank, der dem Geldmenschen zur Falle, schließlich zum tödlichen Verhängnis wird. Im establishing shot mit dem starren Blick der Angestellten auf den Tresor hat Griffith die Moral seines Films bereits als Leitmotiv aufgebaut.

Fazit

Es war der bedeutende Dramatiker, Lyriker und Essayist Hugo von Hofmannstahl, der um 1920, im Zusammenhang mit dem Theater Max Reinhardts, auf einen grundlegenden Wandel seit der vorletzten Jahrhundertwende aufmerksam machte. Er zeigte sich überzeugt von vitalen Bedürfnissen der Epoche, die in einer neuen Wertung des Visuellen zu Tage getreten seien: Die Generation, welche die Epoche trägt, hat sich gegen die frühere umgestellt in Bezug auf den Sinn des Auges.[x] Hofmannsthal erwähnt in diesem Kontext zwar nicht den Film, implizit jedoch bezieht er sich auf die neuen technischen Bildmedien, also auf die Fotografie und die zu dieser Zeit gerade zweieinhalb Jahrzehnte alten Bewegtbilder des Kinos. Um 1920 hatte sich der Film in Europa wie in den USA bereits zu einem modernen Massenmedium entwickelt. Doch schon in ihren Anfangsjahren hatte die Kinematografie ihr zentrales Momentum, die visuelle Wahrnehmung, mit den nur ihr verfügbaren Mitteln thematisiert und den Sinn des Auges zum Gegenstand ihrer frühen Erkundungen gemacht (auch, in noch spielerischen Experimenten, unter Einsatz von Sehhilfen und optischen Prothesen wie Teleskop und Vergrößerungsglas[xi]).

Die Kulturgeschichte des frühen Kinos ist eine Entdeckungsgeschichte, die offenbart, wie ein neues Medium sein essentielles Metier, die visuelle Perzeption, im Wechselspiel zwischen den bewegten Bildern auf der Leinwand und ihren Betrachtern im Projektionssaal erforscht. Im Kino sehen wir andere Welten, die unsere Neugier, unser Wahrnehmungsvermögen ebenso wie unsere Imaginationskraft mobilisieren – und was wir dabei entdecken, ist nicht zuletzt das Phänomen der Wahrnehmung in der inner-filmischen (oder: diegetischen) Realität. Es gibt das Sehen im Kino – und es gibt das Sehen im Film. Wir nehmen wahr, dass und wie die Menschen auf der Leinwand ihr Umfeld wahrnehmen und darauf reagieren, und schon die ersten fiktionalen Filme spielen mit jenen Tricks, die uns als Zuschauern erlauben, mehr zu sehen als das, was die Akteure auf der Leinwand sehen können (und vice versa).[xii] Der stumme, noch nicht von Dialogen befrachtete Film war besonders prädestiniert, die Korrespondenz der Blicke im Kino und der Blicke im Film als Interaktion in Szene zu setzen. David W. Griffith war einer der ersten, der in seinen kurzen Spielfilmen diese Interaktion zu einem Modus der filmischen Narration entwickelt hat.

[i]    Jacques Aumont: Griffith: the Frame, the Figure. In: Thomas Elaesser with Adam Barker (ed.): Early Cinema: Space Frame Narrative. London 1990, S. 356.

[ii]    Peter Gutmann: D.W. Griffith and the Dawn of Film Art.http://www.classicalnotes.net/griffith/part6.html (29.3.2017)

[iii]    Steven Higgins: Still Moving: The Film and Media Collections of The Museum of Modern Art. New York City 2006, S. 43.

[iv]    André Gaudreault and Tom Gunning: American Cinema Emerges (1890-1909). In: André Gaudreault (ed.): American Cinema 1890-1909. Themes and Variations. New Brunswick e.a. (Rutgers) 2009, S. 20. Die Autoren beziehen sich hier auf Griffiths Film A Corner in Wheat.

[v]     Vgl. Klaus Kreimeier: Traum und Exzess. Die Kulturgeschichte des frühen Kinos. Wien (Zsolnay) 2011, S. 287 f.

[vi]    Jennifer M. Bean: Movies and Progress. In: Gaudreault (s. Anm. 4), S. 225-246, hier S. 243.

[vii]    http://www.classicalnotes.net/griffith/part5.html (29.3.2017)

[viii]  Aumont (s. Anm. 1), S. 350.

[ix]    David Bordwell: On the History of Film Style. Cambridge Mass. e.a. (Harvard University Press) 1997, S. 131.

[x]     Hugo von Hofmannsthal: Das Reinhardtsche Theater. In: Heinz Herald: Max Reinhardt. Bildnis eines Theatermannes. Hamburg (Rowohlt) 1953, S. 99-103, hier S. 103.

[xi]    Das gilt z.B. für zwei Filme des Briten George A. Smith: Grandma’s Reading Glass und As Seen Through a Telescope, beide UK 1900.

[xii]   Vgl. etwa den vermutlich ersten Spielfilm der Filmgeschichte: L’arroseur arrosé von Louis und Auguste Lumière, Fr 1895.