Für Hans Michael Bock

Von Klaus Kreimeier

Schon in der ersten Einstellung eines 1913 in Deutschland gedrehten Films geschieht etwas Ungewöhnliches. Die Kamera blickt aus einem Innenraum durch die Glasfläche eines großen geschlossenen Fensters auf eine Veranda, auf der zwei Personen sitzen. Eine zweite Glasfläche schiebt sich schnell von links ins Bild und vor das große Fenster; sie gehört zu einer Tür, die ein Mann, der nur im Anschnitt zu sehen ist, geöffnet hat, um durch sie aus dem Innenraum seitlich nach draußen zu gehen und die Veranda zu betreten. Man sieht noch seinen Arm, der die Glastür schließt, dann verschwindet er kurz hinter der Umrahmung des Fensters und taucht sogleich auf der Veranda wieder auf, um die Dame des Hauses mit einem Handkuss zu begrüßen. Die ganze Aktion ist sehr kurz: bis zum Handkuss sind exakt vier Sekunden vergangen.

Film ist Bewegung, das ist ein Gemeinplatz von durchschlagender Simplizität. Es gibt die Bewegung der Objekte vor der Kamera, und es gibt die Bewegungsmanöver, die von der Kamera ausgeübt werden können und in den ersten beiden Jahrzehnten des Kinos noch sehr vorsichtig und gleichsam Zentimeter für Zentimeter der Technik abgerungen werden. Das ist ein mühsames Geschäft, und in vielen Filmen dieser Epoche kann man gleichsam mit der Lupe studieren, wie die Kameraleute ihrem Gerät beibringen, über ein Gelände, eine Hausfassade oder eine Ansammlung von Strohhüten „die Augen wandern zu lassen“.

Hier aber geht es um etwas anderes. Es geht auch um Bewegung, aber diese Bewegung findet in unserem Wahrnehmungsakt statt: eine Bewegung zweiter Ordnung sozusagen, die etwas mit der Flexibilität unserer Sinnesorgane, in diesem Fall unseres Sehorgans zu tun hat. Es geht um die Physiologie und Psychologie des Auges und seine Schwierigkeit, aber auch seine Bereitschaft, sich überraschen zu lassen. Denn zweifellos ist es ein Überraschungseffekt, mit dem dieser Film beginnt – ein Effekt, der ausschließlich aufs Visuelle zielt und visuell strukturiert ist. Eine Glasfläche, die sich über eine andere Glasfläche schiebt; ein Türrahmen, der die Rahmung eines Fensters durchschneidet: Ganz plötzlich findet nicht nur die „Handlung“ (einer agierenden Person), sondern die Aktion unseres Sehens auf einer verschachtelten, kompliziert gestaffelten Wahrnehmungsbühne statt.

Ein paar Sequenzen später: Ankunft in Rotterdam, der Hauptbahnhof – eine moderne Glas- und Eisenkonstruktion, die den Bildhintergrund beherrscht. Zwei Ankömmlinge streben einer Pferdedroschke im Vordergrund zu, die Kamera nimmt ihre Bewegung auf und schwenkt von links zügig über den Pferdeleib auf die Kutsche. Doch noch schneller eilen, dicht vor dem Kameraobjektiv und somit näher im Vordergrund, zwei Arbeiter mit einer Karre durch das Bild, sie „überholen“ gleichsam den Schwenk, zugleich setzen sie ihn fort ins Off. Wenn sie wieder aus dem Bild sind, haben die beiden Herren in der Kutsche Platz genommen; das Fuhrwerk setzt sich in Gegenrichtung in Bewegung. Die fließende Bewegung der Menschen und Objekte im Bild und die technische Bewegung des „Apparats“ konkurrieren miteinander und ergänzen sich zugleich. Diese Einstellung ist acht Sekunden lang.

Rotterdam ist eine Stadt, in der viel passieren kann – wenn es um einen Kriminalfall oder auch nur um das Sehen, um die Arbeit der Augen geht. In einer Großstadt funktioniert alles „schneller“ als in der Provinz. Bald haben Automobile die Pferdedroschken abgelöst. Es geht schließlich darum, einem Verbrecher auf die Spur zu kommen und ihn bei einer bösen Tat zu ertappen. Da können Sekunden entscheiden, und so ist es nur konsequent, dass zweimal in Großeinstellung eine Hand mit einer Taschenuhr einmontiert wird: der Chronometer als Emblem einer Lebenswelt, in der Zeit als Äquivalent für nahezu alles figuriert: für Geld natürlich und für den geschäftlichen Erfolg, gegebenenfalls aber auch für den Sieg der Rechtsordnung und der Moral. Eine ähnliche Konnotation ist dem Telefon zuzuordnen, das zu Beginn des Films, in der zweiten Einstellung, im Büro des Detektivs groß im Vordergrund zu sehen ist.

Alles muss schnell gehen. In einer Einstellung ist zu sehen, wie sich der Held und der von ihm angeheuerte Detektiv vor einem Hoteleingang ins offene, bereits anfahrende Auto schwingen; der Wagen verschwindet links aus dem Bild und ist in der nächsten Einstellung nach präzisem Umschnitt von vorn zu sehen, in hohem Tempo durch ein Stadttor fahrend, dann unter einer Eisenbahnbrücke hindurch, auf einen freien Platz mit Wasserturm im Hintergrund. Zwischengeschnitten die Taschenuhr, die zur Eile mahnt. Das Aufnahmeverfahren mit der in einem anderen Auto vorausfahrenden Kamera ist zu dieser Zeit im französischen und amerikanischen Film längst erprobt und auch in Deutschland nicht mehr ganz ungewöhnlich. Die hohe Schnittfrequenz (4 sec.- 3 sec.-1 sec.- 1 sec.- 2 sec.), die mit dem erhöhten Tempo der Objekte korrespondiert und sich von ihr stimulieren lässt, verdankt sich amerikanischer Erfahrung und Routine. Es geht um die Attraktionen eines urbanen Milieus. Große Reklameflächen, am Bahnhof und unter der Eisenbahnbrücke, weisen Rotterdam als eine Stadt der Moderne aus. Auf den Originalschauplätzen werden die Dreharbeiten noch als sensationell empfunden: drei Straßenjungs laufen begeistert und mützeschwingend den Autos hinterher.

Der Film heißt Der geheimnisvolle Klub, er ist – in einer Kopie des Nederlands Filmmuseum, Amsterdam – 31 Minuten lang, besteht aus drei Akten und stammt von dem in Österreich geborenen Regisseur Joseph Delmont (über den vor kurzem eine Monographie erschien: Gerhard Winkler, Joseph Delmont: 1873 – 1935; Abenteurer – Filmer – Schriftsteller; sein Leben – seine Filme – seine Bücher, St. Pölten 20051). Delmonts Jugend in einem Wanderzirkus prädestinierte ihn offenbar für eine vielseitige, teilweise recht abenteuerliche Karriere, die ihn (wie Jahre später etliche filmende oder schreibende Globetrotter: Hanns Heinz Ewers, Norbert Jacques, Heinrich Hauser oder Colin Ross) um die halbe Welt getrieben hat. Seine Zirkuserfahrungen begründeten seinen frühen Ruhm als Tierfänger und Dompteur, der ihn zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA rasch zum Spezialisten für einschlägige Ein- und Zweiakter der Vitagraph avancieren ließ. 1910 nach Europa zurückgekehrt, arbeitete Delmont als Kameramann in Österreich (Der Müller und sein Kind, 1911), wenig später auch als Regisseur, Drehbuchautor und Schauspieler in deutschen Ateliers, vor allem bei der Deutschen Mutoskop- und Biograph und der Eiko-Film GmbH, oft zusammen mit Fred Sauer und Ilse Bois. Sie spielen auch die Hauptrollen in Der geheimnisvolle Club, den Delmont nach Motiven von Robert Louis Stevensons Erzählung „Der Selbstmörderklub“ 1913 für die Eiko realisiert hat. Bis 1926 entstanden noch mehr als 30 weitere Filme; fast alle behandeln abenteuerliche, actionbetonte, von Fernweh und Reiselust inspirierte Sujets: Präferenzen, die Delmont in den letzten Jahren vor seinem Tod (1935) noch einmal schriftstellerisch in zahlreichen populären Büchern verarbeitet hat.

Kleine „Sensationen“ für das Auge: das war, in den frühen Filmen vor 1914, eine Delmontsche Spezialität. Auf diesem Gebiet hat er schon manches ausprobiert, was erst Jahre später Joe May oder Fritz Lang aufgreifen werden. Vom Tempo des urbanen Lebens besessen wie nur wenige deutsche oder österreichische Regisseure (allenfalls Max Mack in den Verfolgungsszenen von Wo ist Coletti?, 1913, kann sich mit ihm messen), übertraf er auch alle anderen in seiner Leidenschaft für die plein air-Aufnahme, für überraschungsreiche Außenszenen, in denen Licht, Luft und Bewegung die Akzente setzen, sich in die Handlung einmischen und ihr eine spezifische Dynamik verleihen. Den „Sensationsfilm“ der Jahre vor dem ersten Weltkrieg hat Delmont, nimmt man Der geheimnisvolle Klub zum Maßstab, mit seinen sorgfältig gewählten Außensets geprägt. Es ist die Rotterdamer Innenstadt, in deren Straßen der Kaufmannssohn Gerhard Bern (Fred Sauer) einem Selbstmörderklub, sprich: einem Ring von Versicherungsbetrügern auf der Spur ist; es ist der als subtropischer Traum angelegte Park des Konsuls Verstraaten, in dessen Tochter Ilse (Ilse Bois) sich Gerhard verliebt; es sind die Strände und die elegante Mole von Scheveningen mit ihrem mondänen Publikum, schließlich die düsteren Grachten der Altstadt und die Hafengewässer von Rotterdam, die der Verfolgung und dramatischen Verhaftung des Bösewichts van Geldern (gespielt von Delmont selbst) exzellente Schauwerte hinzufügen und zum Kolorit verhelfen.

Doch es geht um weit mehr als nur um das Kolorit: Den engen Interieurs zahlloser deutscher und französischer Gesellschaftsdramen vor 1914, den mit Portieren, Säulen, Spiegeln, Topfpalmen, schweren Möbeln und Teppichen vollgestopften Salons und Boudoirs einer weder psychisch noch gar politisch verarbeiteten Gründerzeit setzt Delmont in seinen Außenszenerien ein Flair von Freiheit, Wagemut und Unberechenbarkeit entgegen. Er zeigt eine obere Mittelschicht, die in Bewegung geraten ist. Man liebt das Unterwegssein und nutzt die Verkehrsmittel nicht nur zur Fortbewegung, sondern zur Temposteigerung. Dies gilt gerade auch für die gebildete, auf die moderne Welt und ihre Abenteuer neugierige junge Frau, soweit sie den „besseren Kreisen“ entstammt und das Privileg genießt, sich weitgehend unabhängig zu bewegen. Ilse Verstraaten begnügt sich nicht mit den diversen Briefbotschaften ihres Verlobten; sie macht sich selbst auf den Weg, um ihm bei seinen gefährlichen Recherchen zur Seite zu stehen. Sie ist besorgt – und wird aus Sorge um den geliebten Mann zu einer aktiven, umsichtig handelnden Frau. Teilnahmsvoll beobachtet die Kamera aus der Nähe ihr Gesicht im Eisenbahnabteil, während am Fenster die grauen Stadtlandschaften monoton vorüberziehen; sie verfolgt Ilses beschleunigte Autofahrt durch das Stadtzentrum und gleitet schließlich mit ihr im Ruderboot durch die Kanäle auf der Suche nach dem Haus, in dem der geheimnisvolle Klub sein Unwesen treibt. Bei einer riskanten Fassadenkletterei steigt die junge Frau, sportlich trainiert, voran und greift dem gemächlicheren Detektiv noch unter die Arme.

Delmont entwickelt in diesem Film ein ausgeprägtes Gespür für die narrativen, gleichzeitig emotionalen Qualitäten des Lichts: für das Spiel der Sonnenstrahlen auf einer Glasfläche, die Gegenlichteffekte bei der Verfolgungsjagd im Hafen, das wechselnde Hell/Dunkel unter den Hafenbrücken oder die fahlen, schattenhaften Stimmungswerte in den engen Grachten Rotterdams, denen die bläuliche Virage zusätzlich eine unheimliche Tönung verleiht. Ein jäher Lichtausfall fungiert als Spannungsmoment und, für den bedrohten Helden, als Blackout der Handlungsoptionen: Gerhard Bern sitzt im Klub der Selbstmörder buchstäblich in der Falle, wenn im Raum, in dem ihn seine Feinde gefangen halten, von außen das Licht abgeschaltet wird und seine im Dunkeln tastende Hand unvermittelt eben jenen Revolver umklammert, mit dem er sich erschießen soll. Kurz danach sorgt ein neuer Lichtausfall für eine dramatische Zuspitzung – er verhilft im allgemeinen Durcheinander Gerhards Gegenspieler van Geldern zur Flucht mit Ilse, die er als Geisel genommen hat. Sehr ähnlich wird Joe May ein Jahr später in Der Mann im Keller (1914), dem dritten Abenteuer seiner Stuart Webbs-Serie, das Dunkel oder das Halblicht nutzen, um aus der Spannung zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren einen zusätzlichen Thrilleffekt für den dramatischen Höhepunkt zu schaffen.

Man kann nicht behaupten, dass Delmont in diesem Film der Kamera mehr Mobilität entlockt, als zu dieser Zeit in zahlreichen französischen und vor allem US-amerikanischen Actionfilmen zu sehen ist – es gibt, wie schon erwähnt, einige solide ausgeführte Horizontalschwenks zu bewundern, und wenn Ilse und der Detektiv in der Gracht von ihrem Boot ins Haus des Gegners klettern, wenn sich Gerhard von einem Balkon ins Boot der Hafenpolizei abseilt, verfolgt die Kamera ihre Aktionen mit einer angedeuteten vertikalen Bewegung. Interessanter sind einige Groß- und Detailaufnahmen (ein zerschossenes Türschloss, die Hand mit der Taschenuhr), sind wechselnde Einstellungsgrößen (z.B. Gerhards Reaktionen beim verhängnisvollen Kartenspiel), ist vor allem die (von Griffith inspirierte) zunehmende Verdichtung des Geschehens, wenn mehrere Handlungsstränge parallel verfolgt und in immer kürzeren Einstellungen auf ihren Höhepunkt getrieben werden. Mobilität ist in diesem Film ein Produkt aus einer Vielzahl dynamischer Operationen, zu denen auch jene Effekte gehören, mit denen die Kamera als Beobachtungsinstanz des Alltäglichen unsere Augen überrascht und, im Idealfall, das Feld unserer Wahrnehmungen erweitert.

Eine Großstadtperzeption par excellence mag hier als Beispiel stehen. An-, ab- und vorfahrende Automobile regen die kinematografische Phantasie an, evozieren das visuelle Experiment. Mit Delmonts Kamera blicken wir aus einem dunklen Innenraum durch eine halb geöffnete Tür auf die Straße; ein Auto fährt vor und hält. Links neben der Tür befindet sich eine Vitrine, deren Spiegelglas für den Winkel, den die Kamera gewählt hat, die Reflexe des heranfahrenden Autos aus einem gegenüber postierten unsichtbaren Spiegel einfängt: Das Licht-und-Schattenspiel auf der Spiegelfläche, die Bewegung der Radspeichen, die irritierenden Verdopplungen schaffen für ein paar Sekunden ein Wahrnehmungsphänomen, das empirische Erfahrung und physikalische Evidenz in Abstraktion aufzulösen scheint: Kino pur. „Wie im Nachhall des plötzlichen Gedankens, daß Aufklärung eines Unheimlichen gerade ins Rollen kam, taucht die nach rechts aus dem Blickfeld herausgefahrene Kutsche für einen Moment nochmals in Bewegung links auf, gespiegelt von dem halbdunklen Grund der seitlich im Schatten liegenden Schaufensterscheibe.“ So interpretiert Heide Schlüpmann diese Einstellung in ihrer ausführlichen Filmanalyse von 1990.2

Doch das von links hereinfahrende Auto wirft, dank der komplizierten Anordnung der Spiegel, sein Spiegelbild voraus; es verharrt kurz vor dem Eingang, im Glas der Vitrine überlagern sich jetzt zwei Spiegelbilder, van Geldern steigt aus, geht auf die Kamera, d.h. auf den Eingang zu – Schnitt. Der Vorschlag, das visuelle Geschehen mit der „Aufklärung eines Unheimlichen“ zu verknüpfen, bindet das filmsprachliche Raffinement an die „Geschichte“, schließt es gleichsam kurz mit der referierten Moral und weist ihm unter dem Dach einer unterstellten höheren Ordnung einen Stellenwert zu. Dabei ist das, was hier zu sehen ist, zunächst nichts anderes als ein visuelles Ereignis, dessen Aufklärungsqualität sich auf das Vermögen unseres Auges bezieht; das Terrain, auf dem hier etwas gelernt, erfahren und vielleicht verallgemeinert werden kann, ist der Bereich großstädtischer Erfahrung, der Erfahrung von Technizität und Modernität.

In diesem Bereich leistet die Kamera in vielen Filmen vor 1914 ganze Arbeit: Sie ist, ganz unabhängigkeit von ihrer instrumentellen Mobilität, permanent auf einer Entdeckungsreise. In ihren besten Momenten erschließt sie uns, fast „zufällig“, Detailansichten einer im Umbruch befindlichen, sich unablässig wandelnden Lebenswelt. Die soziale Relevanz dieser sinnlichen Entdeckungsreisen liegt auf der Hand. Doch Heide Schlüpmanns These, die „soziale Mobilität, die sich in der Mobilisierung der Kamera (…) niederschlägt“, sei „die des in Bewegung geratenen Geschlechterverhältnisses“3, verengt den Befund. Die Filme verhandeln eine Epoche, in der vieles in Bewegung gerät und nach Emanzipation drängt, aber ihr authentisches Operationsfeld ist zunächst die Emanzipation einer noch vorindustriell geprägten, literarisch gefesselten oder moralisch genormten Sinneswelt.

Theoretisches Postscriptum

Emanzipation: Dieser verheißungsvolle Begriff verschleiert freilich eher eine durchaus zweischneidige Angelegenheit. In den Jahrzehnten, die der Etablierung des Kinos vorausgehen, findet nach Jonathan Crary ein epochaler Abschied und ein nicht minder epochaler Durchbruch statt: der Abschied von der Jahrhunderte lang gültigen Vorstellung, die Abbilder unserer Wahrnehmung seien ein „natürliches“ Produkt äußerer Sinnesreize – und der Durchbruch zur Erkenntnis, dass sich unsere sinnlichen Erfahrungen der Zusammensetzung und Funktionsweise unseres Wahrnehmungsapparats – „the composition and functioning of our sensory apparatus“4 – verdanken. Ein Akt der „Befreiung“ sei dies insofern, als in diesem Paradigmenwechsel die „äußere Welt“ ihren Nimbus als exklusive Instanz für die Konstitution unserer Sinneswahrnehmungen verliert.

Die (naturwissenschaftlichen, philosophischen, psychologischen) Diskurse der Epoche focussieren nun ein neues Phänomen, das Crary unter dem zentralen Begriff „attention“ abhandelt. Die wörtliche Übersetzung mit „Aufmerksamkeit“ umschreibt nur unzulänglich, worum es geht, nämlich eine psycho-physische Qualität unseres Bewusstseins, die uns befähigt, uns nicht „steuerlos“ durch den Ozean unserer Wahrnehmungen und Assoziationen treiben zu lassen, sondern unseren Erfahrungen, letztlich unserem Verhalten Struktur und Richtung zu verleihen. Der Begriff macht eine erstaunliche Karriere in der akademischen und populärwissenschaftlichen Literatur des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts; Autoren wie Max Nordau erheben „attention“ sogar zu einer absoluten Instanz, wenn sie deklarieren, die Macht des Menschen über die Natur und seine Fähigkeit zur Kultur seien allein ihr zuzuschreiben – fehle sie, falle der Mensch vagen Vermutungen und Irrtümern anheim.5 Einmütig betonen die Autoren die Affinität ihres Diskurses zur Modernität und zur Konstitution eines „modernen“ Subjekts. Und aus einer Bemerkung des Psychologen John Dewey geht hervor, wie sehr das attention-Konzept der Entwicklung der Seh-Apparaturen und ihrer zunehmenden Technisierung im 19. Jahrhundert verpflichtet ist: „In attention we focus the mind, as the lens takes all the light coming to it, and instead of allowing it to distribute itself evenly concentrates it in a point of great light and heat. So the mind, instead of diffusing consciousness over all the elements presented to it, brings it all to bear upon some one selected point, which stands out with unusual brilliancy and distinctness.”6

Die Selektionsfähigkeit des menschlichen Wahrnehmungssystems – sie beherrscht die Diskurse und öffnet, so Crary, das Feld für neue Fragen: Konstituiert „attention“, als Ausdruck des freien Willens, das autonome, selbstbestimmte und seiner selbst bewusste Subjekt? Ist sie lediglich eine Funktion unserer biologisch festgelegten Instinkte und insoweit ein archaisches Produkt der Evolution, in deren Verlauf wir gelernt haben, uns der jeweiligen Umgebung anzupassen? Kann „attention“ womöglich produziert und von außen gesteuert werden – „through the knowledge and control of external procedures of stimulation als well as a wide-ranging technology of ‚attraction’”?7 Solche Attraktions-Technologien wurden im 19. Jahrhundert im Bereich der Massenmedien und Massenunterhaltung entwickelt, und ihre avancierteste Erscheinungsform ist um die Jahrhundertwende die Kinematografie. Crary selbst verweist in diesem Kontext auf Tom Gunning: Die Errungenschaft des frühen Kinos liege weniger im Bereich der Repräsentation, der Imitation, der Erzählung oder der Erneuerung der schaustellerischen Performance als in der Strategie, einen „attentive spectator“8 zu fesseln. Einer Strategie, die auf Sichtbarkeit und Versinnlichung zielt, auf die Durchbrechung des geschlossenen fiktionalen Rahmens, auf die unvorhergesehene „Attraktion“ – kurzum: auf die Bereitschaft des Zuschauers, sich als wahrnehmendes Subjekt überraschen und erregen zu lassen.

Der geheimnisvolle Klub ist, im schönen Kontrast zum teils noch recht behäbigen, den internationalen Standards hinterhereilenden Gros der deutschen Filmproduktion vor 1914, ein gelungenes Beispiel für ein Kino perzeptiver Attraktionen, für die Kinematografie als eine Maschine der Sichtbarkeit, die ihre neuen technischen Qualitäten nutzt, um den „attentive spectator“ des bürgerlichen und literarischen Zeitalters auf die Anforderungen und Stimulationen des 20. Jahrhunderts zu orientieren. Seine „attentiveness“ ist auf das Wahrnehmbare gerichtet, auf etwas, das jeglichem Geschichtenerzählen und gar dem Sinn oder der Moral einer Geschichte vorgelagert ist: Es ist die unerschöpfliche Visualität der Welt.

Anmerkungen

1 Biografie und Filmografie in: CineGraph – Lexikon zum deutschsprachigen Film, hrsg. von Hans Michael Bock. Lieferung 29, Oktober 1997, bearbeitet von Jerzy Maśnicki und Kamil Stepan

2 Heide Schlüpmann: Unheimlichkeit des Blicks. Das Drama des frühen deutschen Kinos. Basel – Frankfurt/M. 1990, S. 133

3 Schlüpmann, a.a.O., S. 135

4 Jonathan Crary: Suspensions of Perception. Attention, Spectacle, and the Modern Culture. Cambridge/Mass. – London 2001, S. 12

5 Crary, a.a.O., S. 16

6 Crary, a.a.O., S. 24

7 Crary, a.a.O., S. 25

8 Crary, a.a.O., S. 25, Anm. 34

Überarbeitete und erweiterte Fassung der Erstveröffentlichung:
Christoph Fuchs/Michael Töteberg: Fredy Bockbein trifft Mister Dynamit. Filme auf den zweiten Blick. München (text+kritk) 2007, S. 21-28