Klaus Kreimeier: Traum und Exzess – Die Kulturgeschichte des frühen Kinos
Posted By Redakteur On 7. November 2012 @ 00:05 In Top-News | No Comments
Wir sind, nicht erst mit dem Computer, zu `medialisierten` Menschen geworden
Rezension von Klaus Ludwig Helf
Das Kino ist das erste moderne (audio-) visuelle Massenmedium, ein Geschäftsmodell aber auch zugleich die neue Kunstform des industriellen Zeitalters; zahlreiche technische Utopien des 19.Jahrhunderts wurden durch mediale Entwicklungen inspiriert und vorangetrieben- so der Autor des vorliegenden Bandes zur Kulturgeschichte des frühen Kinos. Bis die Träume und Wünsche des Publikums über die Film-Leinwände schweben, ist bereits ein riesiger Aufwand an Technik, Kapital und Logistik zur Produktion des Lichtspiels Voraussetzung. Mit dem Siegeszug des Kinos hat sich ein neues Medium durchgesetzt, das unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit dramatisch und nachhaltig verändert hat. Die Grundlagen des klassischen Kinos wurden bereits zwischen 1895 und 1914 entwickelt. Vorgänger und zugleich katalysatorische Entwicklungsprodukte des Kinos waren Schaubuden und Panoptiken, wie sie zumeist an Jahrmärkten oder in den Lokalitäten der Städte zu finden waren. Der renommierte Medienwissenschaftler und Filmhistoriker Klaus Kreimeier analysiert und fabuliert in seinem neuesten Band über die Kulturgeschichte des frühen Kinos und wie es sich innerhalb weniger Jahre vom ambulanten Schaustellergewerbe mit den Wanderkinos auf den Jahrmärkten oder in den Kneipen bis zu den Kinopalästen in den Metropolen entwickelt hat. Er erzählt von den ersten cineastischen Experimenten bis zu den abendfüllenden Spielfilmen der Stummfilmzeit.
Das vorliegende Buch ist das Ergebnis eines Forschungsprojektes zum frühen Film im Rahmen des Kollegs „Medienumbrüche“ an der Universität Siegen (2001-2008); im Fokus des Projekts standen die Entwicklung und Ausbreitung des Varieté- und Jahrmarkt- Kinos und die Herausbildung ortsfester Kinos im deutschsprachigen Raum. Dabei entstand u.a. auch die „Siegener Kino- Datenbank“ im Internet mit Informationen zum Wanderkino und zu mehr als 45.000 Filmen (1895 bis 1920). Filmforschung insbesondere zur Frühphase des Mediums ist im Unterschied zu den USA in Deutschland „immer noch marginal“(S.18). Kreimeier schließt mit seinen Forschungsarbeiten und den hier in dem Band publizierten Ergebnissen eine Forschungslücke. Nach Einführung und Prolog folgen acht Kapitel: die Programmierung der Gefühle; das Kino im Zeitalter der Nervosität; frühes Kino in Amerika; Kino der Attraktionen und Kino der Narration; die Erfindung der Massenkultur; Magie und Eigensinn des Apparats; Sozialdrama und Autorenfilm und Repliken auf den Geist der Zeit. Es folgen ein Epilog und der Anhang u.a. mit ausführlicher Bibliografie (einschließlich Internet-Ressourcen) und Personen- und Filmtitel-Register.
Kreimeier, der bis 2004 Medienwissenschaft an der Universität Siegen lehrte, bemüht sich um eine angemessene Methodologie der Filmgeschichtsschreibung in der Tradition der NEW FILM HISTORY(Thomas Elsaesser), die nicht nur Parametern wie Ökonomie, Technik, Präsentations- und Rezeptionsformen, Ästhetik und Massenkultur, sondern auch dem Publikum Aufmerksamkeit widmet. Wenn auch wissenschaftlich fundiert und ambitioniert, ist das Buch ist flüssig und spannend geschrieben, nicht nur für cineastische und filmwissenschaftliche Spezialisten verständlich sondern auch für interessierte Kino-Laien. Anschaulich und bildhaft versetzt uns Kreimeier zurück in die Zeiten der „Flegel-Jahre des Kinos“, der kleinen Luna-Parks und der großen Weltausstellungen, mit ihren Sensationen und Attraktionen aus Mechanik, Licht und Bewegung.
Fesselnd beschreibt der Autor wie die neuen Technologien und Erfindungen wie Eisenbahn und Telegraf, Elektrizität und Verbrennungsmotor eine bisher unvorstellbare Globalisierung und Beschleunigung aller Verhältnisse, ein neues „Zeitalter der Nervosität” (S.77) schufen. Das Kino als „Theater der kleinen Leute“ (Döblin) schuf eine bisher unbekannte Medialisierung des Alltags übte durch seine Modernität und Technikaffinität eine faszinierende Anziehungskraft auch auf die Intellektuellen und auf zahlreiche Angehörige der mittleren und oberen Schichten aus: „Nicht nur dass sich der frühe Film den sichtbaren Fortschritt- die im elektrischen Licht erstrahlende Stadt, den Fernschreiber, das Telefon, die Osramlampe- in seinen Bildern zu eigen macht: Er selbst ist als Maschine einer technisierten Wahrnehmung, Produkt und Vehikel eines neuen Umgangs mit der Zeit“ (S. 88). Sensationen, Sinnesreize und die Bilderfluten spielten von Anfang an eine wichtige Rolle im allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs über Fluch und Segen der Moderne. Insbesondere in Deutschland wurden besonders intensiv die Ängste vor den Auswirkungen der Kinematografie auf das körperliche und psychische Wohlergehen der Bevölkerung und die angeblich nervenzerrüttenden und destruktiven Kräfte des Films diskutiert. Die Behörden der wilhelminischen Bürokratie sahen im Kino einen Ort schwer einschätzbarer Bedrohungen für die Volksgesundheit. Mehr noch: Sie sahen die geistige, psychische und moralische Verfassung des Gemeinwohls und seine öffentliche Ordnung in Gefahr; auch wurde um 1911 der Begriff „Schundfilm“ popularisiert, der sich gegen die Tingeltangel-Welt und der circensischen Attraktionen richtete. Unschwer kann man Parallelen erkennen zwischen jenen “Flegeljahren des Kinos” und unserer heutigen Zeit, die von ähnlichen Umbrüchen und Paradigmen-Wechseln geprägt ist, in der wir hin und her gerissen sind zwischen analogen und digitalen Medien, zwischen Beschleunigung und Entschleunigung.
Kreimeier macht auch deutlich, dass sich bereits in den frühen Jahren des Kinos mit Hollywood ein Industriekomplex etabliert hat, „der sich nicht nur die Wahrnehmungsformen der Menschen, sondern auch ihr alltägliches Verhalten, ihre Sehnsüchte und ihr Verhältnis zur Warenwelt untertan macht. Werbung und Mode, Freizeitgestaltung und Unterhaltungsbedürfnisse werden abhängig von Hollywood- mehr noch: Sie brauchen den Hollywoodfilm, der- so der Autor- Standards setze für Filmerlebnisse, Stories und Erzählweisen und für die Orientierung im Alltag: „Auf der Ebene der Erfahrungen wird sich die Geschichte Hollywoods als eine Geschichte der Enteignung entfalten. Siegfried Kracauers oft bespöttelter Satz der Filmkritiker von Rang sei nur als Gesellschaftskritiker denkbar, ist in dieser Erkenntnis verankert…Allerdings gilt auch, dass Hollywood die Entwicklung der kommenden Jahrzehnte dominieren, aber auch auf Einspruch, alternative Konzepte, Gegenstrategien treffen wird. Auch sie sind bereits im Kino vor 1914 angelegt“ (S.112). Auch die „Militarisierung der Wahrnehmung“, die „Symbiose von Krieg und Kino“ gehört- wie Kreimeier im letzten Kapitel seines Bandes analysiert- zur Frühgeschichte des Kinos „ und sie wird, als ein Kainsmal der Moderne, unauflöslich mit der Geschichte der Kriege im 20.Jahrhundert verbunden sein“ (S.366). So entstanden in Deutschland bereits 1914/15- angepasst an die aktuelle Kriegssituation- simple Muster von Kriegsfilmen („feldgrauer Filmkitsch“), die in den nachfolgenden Jahren perfektioniert wurden im Sinne deutschnationaler Kriegs-Propaganda (z.B. „Sturmzeichen“, „Es braust ein Ruf wie Donnerhall“, „Todesrauschen“, „Mit Herz und Hand fürs Vaterland“).
Am Schluss seiner Analyse schlägt Kreimeier einen weiteren Bogen zu aktuellen medienpolitischen Diskussionen. Wenn die Abhängigkeit der Menschen von den Medien weiter wachse, so werde die „Vergesellschaftung der Subjektivität zur Norm der modernen Zivilisation. Industrialisierte Wahrnehmung und mobilisiertes Sehen haben auch die Welt unserer Wünsche und Träume in permanente Schwingungen versetzt. Wir sind, nicht erst mit dem Computer, zu `medialisierten` Menschen geworden. Die Bilderwelt des frühen Kinos hat in diesem Prozess eine eminente Vorarbeit geleistet.“(S.367). Mit seinem Band hat Kreimeier einen ausgezeichneten Band über die Frühgeschichte des Kinos vorgelegt, in dem nicht nur die soziokulturellen, ökonomischen und psychologischen Kontexte dieses modernen Mediums herausgearbeitet werden, sondern auch die Films selbst ästhetisch gewürdigt werden.
Zsolnay/Hanser, München. 416 Seiten mit Abbildungen, 24,80 Euro